Das entkommene Schaf

Text von Amselgunde

Foto von Julia Filirovska von Pexels

Freddi gähnt und steigt von seinem schwarzen Drachen Contracto. Seine Glieder schmerzen von dem langen Flug und die Nachtluft hat sich in seinen Knochen eingenistet. Doch jetzt ist er endlich da, beim Bauernhof von Polas Golddaumen – der einzige Bauer in ganz Umbrora, der nachts um 3 Uhr die Weltenhüter ruft, weil ein Schaf entlaufen ist.
„Warte am besten hier. Die Schafe erschrecken sich nur, wenn du plötzlich im Stall stehst“, murmelt er zu Contracto. Dieser grummelt nur und legt sich auf den Grasboden. Freddi tätschelt ihm den schuppigen Rücken und erhält schlagartig Sinneseindrücke des Drachen. Es riecht nach Blut, sehr viel Blut. Was ist denn bitte hier passiert?

Freddi tritt auf den Stall zu und spricht kurz mit dem vor Angst schlotternden Polas Golddaumen. „Sie sind alle weg. Nur eins ist entkommen. Bitte, finde es. Es ist noch alles, was wir haben.“

„Was ist denn passiert?“, will Freddi wissen und sieht sich kurz um. Die Umgebung scheint normal. Ein Bauernhaus, weite Weizenfelder, die im Mondlicht schimmern. An sich nichts Ungefährliches. Nur der Stall wirkt seltsam bedrohlich.

„Ich weiß es nicht! Ich bin nur von den Schreien der Schafe geweckt worden. Als ich ankam, waren sie alle… ich hab nur gesehen wie eines geflohen ist. Bitte, finde es!“ Polas Golddaumen zeigt auf den Innenraum des Stalls. „Ich kann nicht nochmal…“

„Das ist in Ordnung, geh nur ins Haus. Ich sehe mir alles an“, antwortet Freddi und versucht trotz seiner Müdigkeit mitfühlend zu klingen. Dankend nickt der Mann, der im Normalzustand wahrscheinlich mehr einem Bären ähneln würde, als einem verängstigten Kaninchen.

Als der Weltenhüter den Stall betritt, kann er die Gefühle des Bauern verstehen. Um die 50 Schafe liegen tot, fast schon zerfleischt auf dem Boden. Blutspuren ziehen sich über den sandigen Boden. Es ist ein regelrechtes Massaker.
Ein Schauer zieht sich über Freddis Rücken und er muss sich heftig schütteln. Er versteht, warum seine Chefin Patrizia ihn hierhin zitiert hat. Sie ist die einzige, die von seinem Geheimnis weiß. Und es graut ihm, dass er jetzt davon Gebrauch machen muss.

Er kniet sich neben eines der Schafe und berührt dessen Halswunde mit zwei Fingern. Der Körper ist noch ein wenig warm. Mehr braucht er nicht. Die Augen schließend konzentriert er sich auf das Schaf, seinen geschunden Körper, auf den Stall. Er atmet ein und wieder aus. Nichts ist existent außer dem Schaf und dem Stall. Nichts ist von größerer Bedeut- AHA!

Freddie spürt den wahrscheinlich letzten Lebenshauch in irgendeiner Zelle des Schafs und konzentriert sich darauf.
Plötzlich ist er nicht mehr Frederik Schimmerauge der Weltenhüter. Er ist ein futterndes Schaf, das sich über sein Abendessen hermacht. Laute Stimmen dringen vor der Stalltür zu ihm hinein, doch es stört sich nicht daran. Dann geht die Stalltür plötzlich auf und eine blitzende Klinge rückt in sein Sichtfeld.

Die aufkeimende Panik des Schafs wird zu Freddis eigener. Er muss sich zusammenreißen nicht aufzuschreien, als er die Verbindung löst. Japsend kriecht er einige Schritte vom toten Schaf weg. Das war kein wildes Tier.

Plötzlich hört Freddi ein Rascheln hinter sich und fährt ruckartig herum. Polas Golddaumen steht mit einer Sichel im Eingang des Stalls. Ein hasserfüllter Ausdruck ist in sein Gesicht gemeißelt. „BLUTMAGIER! ICH WUSSTE ES!“, brüllt er und stürmt auf den überrumpelten Freddi zu. Draußen hört er seinen Drachen aufbrüllen.