Das scheue Reh am Sommertanz
Text von: Amselgunde
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Natascha wollte eigentlich gar nicht auf diese blöde Feier gehen. Aber Freddi hatte sie überredet mitzukommen. Wie zu erwarten war Anfang ziemlich dröge gewesen. Haufenweise Festansprachen über die Personen, die Umbrora sicherer machten, und unnötige Formalitäten hatten sich aneinandergereiht und eine Kette der absoluten Spießigkeit ergeben. Noch nie war Natascha so froh darüber gewesen, dass man die Feier offiziell eröffnet hatte. Doch dann waren ihre alte Gruppenmitglieder gekommen, ein Moment, vor dem sich Natascha lange gesträubt hatte.
Doch tatsächlich war es sehr schön gewesen, nochmal mit ein paar KollegInnen zu sprechen. Keiner schien ihr einen Vorwurf gemacht zu haben, obwohl sie nun fast drei Monate inaktiv im Dienst war. Das Gegenteil schien sogar der Fall gewesen zu sein. Sogar Magnus, der sonst nie für irgendwen ein freundliches Wort zu haben schien, hatte sie fast liebevoll in den Arm genommen und gemeint, dass er sich freue, wenn sie bald wieder Teil der Drachenkrieger sei.
Okay, ein bisschen leiser hatte er hinzugefügt, dass er die nächtlichen Trink-Eskapaden auf dem Dach des Hauptquartiers mit ihr vermisse. In diesem Moment hatte Natascha es einfach nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass sie eigentlich nicht mehr trinke. Dass sie sich gar nicht sicher war, ob sie überhaupt zu den Drachenkriegern zurückkehren wollte. Sie hatte einfach gelächelt und genickt. Hätte die alte Natascha das überhaupt gekonnt?
Jetzt stand sie gelangweilt an das große Treppengeländer des Königinnenpalastes gelehnt. Ja, Königin Pincea verstand es, eine große Feier herzurichten und gemeinsam mit ihrem Gatten ihre Gäste von vorn bis hinten zu bedienen. Doch ein Teil der Drachenkrieger war nun bereits zur Nachtschicht angetreten, ein anderer Teil war in irgendwelche Gesellschaftsspiele verwickelt worden und Freddi, der Blödian, wegen dem sie erst auf dieser blöden Feier erschienen war, war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Ganz toll.
Die alte Natascha hätte geschnaubt, „Scheiß drauf!“, gedacht und sich hemmungslos einen dieser widerlich süßen Weine nach dem anderen hinter die Binde gekippt. Aber die neue Natascha… tja, die langweilte sich einfach und nippte vornehm an ihrem Holunderblütensaft. Vielleicht war es auch für sie an der Zeit nach Hause zu gehen. Etwas verdrossen stieß sie einen Seufzer aus und trat vom Eingangsportal des Palastes wieder die Stufen hinab, um ihr mittlerweile leeres Getränk einem Kellner in die Hand zu drücken.
Als sie wieder im großen Garten vor dem Palast stand, staunte sie nicht schlecht. Tatsächlich wurde, trotz der späten Stunde, noch immer fröhliche Musik gespielt, es gab noch viele tanzende Personen und im Allgemeinen schien die Stimmung noch ziemlich heiter. Irgendwie bedrückte das Natascha noch mehr. Sie schien einfach nicht hier rein zu passen.
Direkt hinter dem großen Tanzbereich befand sich die Bar. Ihr Ziel fest im Blick haltend, marschierte sich über die liebevoll gepflegte Wiese, missachtete womögliche Gesprächspartner… und fand sich schließlich in einer ewig langen Schlange vor der Bar wieder. Ganz toll.
Brummend sah sich Natascha um. Um sie herum befanden sich nur freudig strahlende Gesichter, die aufgeregt miteinander tuschelten, die Magie dieser wunderbaren Sommernacht lobten und generell komplett aus dem Häuschen waren, auf einer so schönen Feier sein zu dürfen. Natascha hätte sich gern einfach hier und da direkt übergeben. Vielleicht wäre so immerhin ein Kellner aufgetaucht.
Doch.. wer war das? Auf der anderen Seite der Tanzfläche, im Halbdunkel unter einer großen Trauerweide stand jemand. Unsicher sah er auf die Menge vor ihm, nippte immer mal wieder an seinem Getränk und sah dann in irgendeine andere Richtung. Es schien, als sei er die einzige Person auf dieser Feier, die heute Abend genauso wenig Spaß hatte wie sie. Eine Ruhe ging von ihm aus, als stände er in einem tiefen Wald. Wenn Natascha es recht bedachte, schien er wie ein scheues Reh im tiefsten Dickicht zu sein, wohl wissend, dass vor ihm ein Tal voller Wölfe war.
Noch ehe sie es bemerkt hatte, war sie bereits auf dem Weg zu ihm. Sie musste jetzt mit ihm sprechen. Warum? Keine Ahnung. Es musste einfach sein. Seine Ausstrahlung, diese Ruhe… sie zog Natascha magisch an. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihr Herzschlag war schwer und langsam geworden, eine Gänsehaut hatte sich auf ihren Armen und ihren Nacken gebildet. Wer war er? Warum war er hier? Warum hatte sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen?
Plötzlich stand sie vor ihm und hatte selbst nicht so eine richtige Ahnung, wie sie gerade hierher gekommen war. Hatte sie jemanden umgerannt? War das überhaupt wichtig?
Erst jetzt bemerkte sie, dass die tiefhängenden Äste der Trauerweide die Geräusche der Feier abdämpften. Obwohl sie nur unweit von den Tanzenden entfernt standen, war es hier um einiges ruhiger. Jetzt verstand Natascha, warum sich der mysteriöse Fremde hierhin zurückgezogen hatte.
Als sie plötzlich vor ihm gestanden hatte, war er aufgeschrocken. Mit großen braunen Augen hatte er sie angesehen. Ja, wäre er ein Reh gewesen, wäre er sofort zurück in den Wald gejagt.
„Hallo“, grüßte Natascha ihn.
„Ähm, ha- guten Abend.“
„Ich… hab gesehen, dass du hier alleine rumstehst und ich dachte.. ich sag mal hallo.“
Seine Schockstarre schien noch nicht überwunden. Ein unruhiger Blick lag noch immer auf seinen Augen. „Hallo.“
Wow, ist das sein Ernst?!, dachte sich Natascha, doch blieb entspannt. Wer Rehe fangen will, braucht Geduld. Das hatte sie bei ihrer Wanderung durch die nördlichen Wälder im letzten Monat gelernt.
„Ich bin Natascha und wer bist du?“
„Philipp.“ Er hatte eine tiefe Stimme, das gefiel ihr.
„Und.. wie bist du auf diese Feier gekommen?“, fragte sie weiter.
„Meine Schwester hat mich mitgebracht… aber wo genau sie jetzt hin ist… keine Ahnung. Eigentlich bin ich nicht gern auf solchen… großen Anlässen.“
Schmunzelnd verzog Natascha das Gesicht. „Ja, geht mir auch so. Ich bin auch nur hier, weil mich ein Freund überredet hat.“
Irritiert sah sich Philipp um. „Und der ist…?“
„Auch verschwunden. Hat mich einfach allein gelassen“, seufzte Natascha.
Tatsächlich schmunzelte jetzt Philipp. Doch antwortete er nicht. Einige Augenblicke standen die beiden da, unschlüssig, was man nun zueinander sagen sollte.
„Willst du vielleicht noch was trinken?“, fragte Natascha schließlich und nickte in Richtung des metallenen Bechers in seiner Hand.
„Ähm.. schon. Aber… sag mal…“
„Ja?“
„Kenne ich dich von irgendwo her? Haben wir uns schon mal gesehen?“
Nun war es Natascha, die panisch wurde. Die Schwere in ihrem Herzen setzte aus und es begann panisch zu schlagen. Ja, es gab Plakate von ihr und den Drachenkriegern überall in den Straßen von Umbrora. Doch darüber wollte sie nun ganz sicher nicht sprechen. Keiner außer den Kriegern musste wissen, dass sie gerade eine eventuell unbefristete Auszeit nahm. „Uff, weiß nicht. Kann sein? Ich bin manchmal schlecht mit Gesichtern.“
Mitfühlend lächelte Philipp erneut. „Das geht mir auch so. Ich kann mir auch nie Gesichter merken. Aber ich dachte.. vielleicht? Nicht, dass ich dir auf die Füße trete?“
Natascha schüttelte etwas zu heftig den Kopf und zwang sich ebenfalls zum Lächeln. „Nein, das tust du nicht… ganz sicher nicht. Wollen wir zur Bar gehen?“
„Gern.“
Gemeinsam traten sie unter der Krone der Trauerweide hervor. Die Geräusche der Feier waren wieder klar und laut. Es schien, als seien sie aus einer eigenen Welt wieder in die Wirklichkeit aufgetaucht. Jetzt konnte auch Natascha das Tal voller Wölfe sehen.
Nervös schlossen sich ihre Hände fester um das Glas, das sie noch immer in der Hand hielt. Sie sah zu Philipp. Der schien noch weniger erfreut über die lebhafte Feier. Unwillkürlich begann Natascha zu lächeln. Sie hatte jetzt die Wahl… beschützte sie ihre Begleitung vor diesem Rudel Wölfe, wie sie schon oft andere ängstliche Zivilisten beschützt hatte? Oder drehte sie sich um, um gemeinsam mit dem scheuen Reh an ihrer Seite wieder im Wald zu verschwinden?
Ende