Das Sehnen des Mondes
Text von: Palandurwen
Beitragsbild: AdobeStock_342020572
CN: Ängste – Tod – Ertrinken – Elterlicher Druck – Schuldgefühle – Selbstverleugnung
“Hüte dich vor Vollmondnächten!” Die Worte seiner Mutter hatten sich regelrecht in seinen Geist eingebrannt. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der er sie nicht von ihr gehört hatte. Eindringlich gesprochen, warnend und flehend zu gleich. Er verstand sie nie ganz und doch schürten sie eine Angst sondergleichen in ihm. Sein Leben lang.
Er zählte kaum zwei Jahre. Seine Schritte waren damals noch unsicher und doch ungestüm. Er konnte es nicht abwarten, endlich loszulaufen, endlich anzukommen. Und jeder unvermeidbare Sturz fachte diese Sehnsucht nur weiter an. Grimmig lachend rappelte der kleine Junge sich dann stets wieder auf, strich sich ungeduldig seine blonden Locken hinter die Ohren und schritt entschlossen weiter voran. Was ihn zog? Er wusste es nicht.
Seine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, um ihren Sohn im Zaum zu halten. Ihr Herz konnte keinen Moment Ruhe finden, wenn er wach war. Nur in der Nacht traute die Frau sich zu verweilen. Wenn der Kleine endlich seine roten Pausbacken ins Kissen schmiegte, ging sie noch einmal zur Tür, rüttelte an ihr und versicherte sich, dass sie verschlossen war. Mit letzter Kraft schleppte sie sich dann endlich auf den Stuhl beim Kamin und schloss selbst einen Moment lang die Augen.
Doch eines Abends war sie so erschöpft vom Tag, dass sie es nicht mehr schaffte, ihr Gewissen zu beruhigen. Sie würde den Schlüssel sicher herumgedreht haben, dachte sie bei sich und schon sank ihr das Kinn auf die Brust.
Als seien ihrer beiden Augen mit einem unsichtbaren Band verknüpft, öffneten sich die des Jungen im selben Augenblick. Er liebte seine Mutter und wollte sie nicht wecken. Also kletterte er leise wie ein Schatten aus seinem Bett und sah den Schlüssel in der Türe stecken. Ein unwiderstehlicher Drang kämpfte sich empor und zwang ihn, den Metallgriff im Schloss zu drehen und die Tür zu öffnen. Sofort fiel silbriges Mondlicht durch den Spalt. Fasziniert trat der Junge heraus und badete seine goldenen Locken darin. Er suchte nach der Quelle, die Sonne konnte es nicht sein. Da sah er die große, helle Scheibe am Himmel und lief ihr willenlos entgegen.
Mit jedem Schritt dachte er, müsse das leuchtende Ding am Firmament endlich näher kommen. Doch wie ein besonders geschickter Spieler beim Fangen entwischte es seinen ausgestreckten Händen immer und immer wieder, lockte ihn weiter und weiter von zu Hause fort. Erst als die nackten Füße ans Ufer eines kleinen Teiches kamen, stockten sie. Denn leise, kaum zu vernehmen, erklang eine weiche, süße, dunkle Stimme.
“Komm zu mir. Sieh mich an. Tauch ein in mich!”
Der Junge betrachtete das Wasser, welches wie ein Spiegel glatt vor ihm lag. Dunkel und undurchsichtig – bis auf die Stelle, in der sich kreisrund das helle Licht des Mondes zeigte. Nur dort kräuselte sich die Oberfläche stetig, als würde jemand – oder etwas – atmen. Und wieder erklang das Wispern, lockend, verheißungsvoll, tief: “Komm zu mir. Tauch ein in mich!”
Der Junge zögerte. Er wusste, dass er nicht ins Wasser durfte. Aber diese Stimme klang so wundervoll und der Mond sah zauberhaft aus. Drum setzte er doch einen Fuß ins Wasser, da kam die silbrige Spiegelung scheinbar näher. Ein weiterer Schritt und wieder bewegte sich das Mondlicht auf ihn zu. Als er knietief im kühlen Dunkel stand, stieß er an den pulsierenden Schein. Doch ehe er noch einen Schritt weiter tun konnte, stürzte seine Mutter in den Teich hinein, zog ihn vom Spiegelbild des Mondes fort und wollte wieder hinaus.
Da kam vom Ufer eine Brandung auf und schlug ihr brutal entgegen. Aus dem Lichtkreis erhob sich ein silberner Schatten und rief schrill: “Gib ihn mir! Ich brauche ihn!” Sie schrie dem Toben entgegen: “Er ist nicht für dich!” Und die Frau kämpfte, ging unter, tauchte wieder auf, kämpfte weiter und erreichte schließlich atemlos doch das Ufer. Sobald sie ihren Sohn ins Gras gebettet hatte, erstarb das Wasser widerstrebend. Sofort nahm sie ihr Kind in den Arm, klopfte auf seinen Rücken und flehte zu allen Göttern, dass sie noch rechtzeitig gekommen sei. Da begann er zu husten und zu prusten und spuckte einen Schwall Wasser aus. Er glänzte fahl silbrig. Der Schatten aber war verschwunden.
Seit jener Nacht waren viele Jahre vergangen. Aus dem süßen Knaben war ein junger Mann geworden. Das ewige Sehnen in seiner Brust war mit der Zeit nicht versiegt. Doch er hatte es nie wieder gewagt, ihm nachzugeben. Der Kummer seiner Mutter hatte ihn zutiefst erschrocken und er wollte ihr nie wieder einen solchen Schmerz zufügen. Drum hielt er sich von all seinem Herzbegehr fern, blieb bei ihr, kümmerte sich um sie und folgte ihren Worten brav. Sein Inneres verleugnend, sagte er stets zu sich selbst: “Hör auf sie. Sie hat dich damals gerettet! Du musst ihr dankbar sein – für immer!”
Das einzige, was er von Zeit zu Zeit doch wagte, war ein scheuer Blick in die Nacht. Aber nie bei Vollmond. Doch schon das schwache, silberne Licht erweckte wieder dieses Ziehen in seiner Brust. Dann sprach seine Mutter immer wieder: “Hüte dich!” und er kämpfte gegen seinen Drang loszulaufen verbissen an. Es war kräftezehrend.
Doch dem Leben kann niemand Einhalt gebieten und so starb seine Mutter eines Tages. Und auch wenn er stark und jung und wunderschön war, drohte die Verzweiflung ihn nun zu verzehren. Denn es war jetzt an ihm, sich eine Frau zu suchen und mit ihr den kleinen Hof fortzuführen, den er mit seiner Mutter seit dem Tod des Vaters betrieb. Er kannte alle Handgriffe, war hervorragend in seinem Tun. Der Ertrag war reich, er somit eine wahrlich gute Partie. Und doch traf ihn das Leben wie ein Schlag. Denn im Laufe der Zeit hatte er zwar vieles gelernt – das Miteinander mit anderen Menschen jedoch nicht. Schon immer fühlte er sich fehl am Platz und verstand nicht die Dinge, die Gleichaltrige liebten. Niemals schaute er einem Mädchen hinterher. Niemals scherzte er zotig mit den anderen Knaben. Er galt als Sonderling – wenn auch als ein hübscher, wie die Leute sich zuraunten.
Wie sollte er nun also den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen?
Die Verzweiflung streckte ihre eiskalten Finger nach ihm aus, legte ihre Hände bleischwer auf seine Schultern und glitt an diesen herab, bis zu seiner Brust, bis zu seinem Herzen. Rastlos waren seine Tage, die er versuchte durch Arbeit zu füllen. Doch kein Werk konnte schwer genug sein, damit er nachts zur Ruhe fand. So kam es, dass er erschöpft, fast schon unbewusst wieder einmal seinen Blick gen Nachthimmel wandern ließ. Und da traf es ihn: das Licht des Vollmonds.
Er schluckte schwer und wusste: Er könne ihm nicht widerstehen. Wie im Traum legte er seine Hand auf den Türgriff. Noch ehe er verstand, was er tat, befand er sich schon draußen im hellen Schein. Er sog die nachtkühle Luft tief ein und spürte wieder das Ziehen in seinem Herzen. Und vielleicht weil er so ratlos war, konnte er ihm dieses Mal nichts entgegensetzen – und gab ihm nach.
Wieder führten seine Schritte ihn ans Ufer des kleinen Teiches, ein Ort, den er seit jener Nacht gewissenhaft gemieden hatte. Er starrte das silberne Spiegelbild an, als es sich zu kräuseln begann.
“Ah, da bist du endlich!”
Die Stimme ergriff sofort Besitz von ihm. Sie war so dunkel und tief, dass sie in seinem Bauch kitzelte.
“Wer bist du?”
“Ich bin der Mann im Mond. Kennst du mich denn gar nicht mehr?”
Besorgnis schwang in den Worten mit.
“Ich dachte immer, du warst nur ein böser Traum …”, flüsterte der junge Mann.
Da bewegten sich die silbernen Wellen auf ihn zu und erhoben sich als lichtener Schatten vor ihm.
“Nein, ich bin wirklich. Und ich habe auf dich gewartet. So lange.”
“Warum auf mich?”
“Weil ich dich liebe. Schon immer. Du bist so schön. Und warst immer so frei und wild. Doch das hat sie dir genommen. Hat dich nicht so sein lassen, wie du wirklich bist. Dich in ein Korsett aus Erwartung eingewoben und so fest darin eingeschnürt, dass du mich niemals hast wiederfinden können.”
Der Schatten floss noch näher heran.
“Ich habe dich beobachtet. Dein ganzes Leben lang. Ich habe dich gerufen. Doch du konntest mich nicht hören.”
Seine Stimme schwang wie ein Pendel zwischen Süße und Bitterkeit.
Der Jüngling starrte das Wesen vor ihm an. Er hatte seinen Worten genau gelauscht und spürte, dass in ihm etwas bersten wollte. Eine Mauer um eine tiefe Sehnsucht, die er schon immer in sich trug und doch nie hatte Wahrheit werden lassen wollen. Die Erkenntnis presste seinen Atem aus der Brust und er glaubte einen Moment, er würde auf der Stelle umfallen müssen. Doch seine Beine trugen ihn, denn eine Frage drang nun hervor.
“Wenn du der Mann im Mond bist – wie kannst du aber hier auf Erden sein?”
“Einst war ich ein Mensch wie du. Doch auch ich verliebte mich in den Mond, so dachte ich. Ich wusste, dass es falsch war und alle warnten mich davor. Doch ich rief ihn an, sein wundervolles, silbernes Antlitz, und bat um seine Gnade. In Wahrheit lauerte dort aber eine dunkle Kreatur. Sie versprach mir süße Zweisamkeit und verriet mich doch. Es ist nämlich so: Nur wenn jemand auf dem Mond ist, kann dieser auch leuchten. Denn der silberne Schein ist das Licht eines Lebens. Die Kreatur, selbst seit langer Zeit dort gefangen, lockte mich zu sich hinüber und schlich jedoch selbst auf die Erde zurück. Gefangen und allein musste ich also bleiben. Und es ist so einsam da …”
Der Schatten sprach immer leiser, bis seine Stimme gänzlich brach.
Er seufzte schwer. Dann hob er erneut an.
“Wenn es Vollmond ist, strahlt mein Licht so hell, dass ich mich für eine Nacht wieder auf die Erde stehlen kann. Doch meine Zeit ist knapp bemessen und ich kann nur dahin, wo ich auch einen Weg zurückfinde. Ein Spiegel. Ein Glas. Wasser und Metall. Jeden Vollmond besuche ich die Erde und streife umher. Dabei traf ich dich und wusste sofort, dass ich dich liebe. Dass ich dich brauche. Denn du bist so wie ich.”
Der junge Mann zögerte.
“Woher weiß ich, dass du mich nicht auch verrätst und einsam zurücklässt?”
“Das weißt du nicht. Und ich kann es dir nicht beweisen. Du musst mir glauben. Musst meiner Liebe glauben.”
Nachdenklich setzte der Junge sich ins feuchte Gras und betrachtete die silberne Silhouette aufmerksam von unten herauf. Fließend und dennoch klar umrissen war der Mann im Mond zweifellos atemberaubend schön. Eine Gestalt vollkommen aus Licht gemacht. Und wahrlich, wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte ihn noch nie etwas so angezogen, so gefesselt. Wenn er dieses Leuchten nun gehen lassen müsste, würde seine Welt für immer in Dunkelheit versinken, so glaubte er. Er fasste sich ein Herz.
“Wie soll ich denn aber zu dir kommen?”
Ein Stöhnen, halb Erleichterung, halb Unglaube drang empor.
“Es ist so einfach, wie schwierig. Du musst in mich hineintauchen und bis zum Grund des Teiches schwimmen. Dabei musst du alles Wasser, das mein Licht berührt, trinken, damit auch du zu Licht wirst und ich dich mit auf den Mond nehmen kann.”
Der schöne Jüngling warf einen nachdenklichen Blick über seine Schulter.
Sein Hof.
Sein geplantes Leben.
Die ewige Warnung seiner Mutter.
Das alles waren so schwere Lasten, die seinen Rücken niederdrückten, die ihn nicht atmen ließen und sein Inneres einzwängten, abschnitten, erwürgten. Er konnte es nicht mehr ertragen. Mit einem leisen “Es tut mir leid, Mutter” auf den Lippen erhob er sich und schaute dem Schatten fest entschlossen entgegen.
Dieser breitete seine Arme aus und umfasste ihn zärtlich, als der Mensch, nach dem er sich so lange verzehrte, endlich den Schritt in das erleuchtete Wasser tat. Der Bursche ließ sich fallen und tat einen kräftigen Zug. Dann noch einen. Immer weiter schluckte er das flüssige Silber, nahm es in sich auf und wurde schließlich eins mit ihm.
In den nächsten Tagen wunderten sich die Leute, wo der junge Hofbesitzer wohl geblieben war. Keine Spur war von ihm zu finden. Keine Nachricht.
Die Nachbarn wussten nichts, ahnten nichts.
Der Schöne betrachtete das Treiben von oben herab, Arm in Arm mit dem Mann im Mond. Und dann blickte er nie wieder dorthin zurück, sondern versank für immer in den silbernen Schein seines Geliebten. Endlich am Ziel angekommen.