Der Reichtum des Vergessens

Text von: Palandurwen
Beitragsbild: AdobeStock_311865855
CN: Gewalt gegen Frauen / Prostitution / Alkoholismus / Tod / Vergewaltigung

Sie war so süß. Ihr Antlitz ein Hochgenuss. Das lange Haar, flachsblond und zart gewellt, umrandete ihr rundliches Gesicht. Manch Strähne verirrte sich in ihren langen Wimpern, manch eine klebte auch von Zeit zu Zeit an ihren vollen Lippen, sodass sie sie unwirsch mit ihren Fingern fort streichen musste. Fast kindlich wirkte sie und doch zugleich schon reifer, als ihr Alter es erlaubte. Denn die braunen Augen schienen leer und gläsern, ähnlich die einer Puppe. Kein Wunder, sahen diese doch bereits Momente und Begebenheiten, die nicht hätten spät genug im Leben auf sie treffen können – und das noch viel zu früh.

Weder Vater noch Mutter waren noch am Leben. Und mit ihnen schied nicht nur ihre Sorglosigkeit dahin, auch verlor sie ihr Dach über dem Kopf. Ihr blieb nichts weiter, als die Kleider an ihrem Leib und die Flasche Wein, die ihr Vater stets gehütet hatte. Kurz bevor die Männer kamen, sie aus ihrem Heim zu werfen, nahm sie den guten Tropfen an sich und verbarg ihn unter ihrem Rock. Sie wusste nicht, warum sie ausgerechnet diesen griff, gab es doch Wertvolleres. Und doch bemerkte sie bald, dass ihre Wahl nicht die schlechteste war.
Denn auch wenn der rote Rebsaft nicht sättigte, so war er doch süßlich und schwer und schenkte vor allem eins: Vergessen.
Um den Schmerz zu vergessen.
Die lüsternen Blicke der Männer, die sie hatten hinausgeworfen.
Und die Orientierungslosigkeit, die nun ihr Leben war.

Ihre Füße trugen sie durch die unebenen Straßen, sie stolperte über manch losen Kopfstein, torkelte und taumelte durch enge Gassen immer weiter an den Rand der Stadt. Bald schon hatte sie den letzten Tropfen aus der Flasche gierig eingesogen. Hoffentlich reichte es, um sie noch lange zu betäuben. Denn sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Zur nächsten Stadt? Hinaus in den Wald? Suchend drehte sie sich im Kreis, da ragte auf einmal ein Schatten empor.

“Mädchen, was machst du hier allein? Bist du vom Wege abgekommen?” Ein Mann, selbst staubig und ungepflegt, aber groß wie ein Bär versperrte ihr das Weiterkommen. “Sieh nur, ich bin arm und mich hungert es, nach Fleisch und Wärme. Da kommt mir so ein süßes Ding wie du gerade recht …” Kaum sprach er das, packte seine Hand voller Schwielen sie grob am Arm und zog sie nah zu sich heran. Zwischen Benommenheit und Betrunkenheit regte sich ein kurzer Moment Angst in ihr. Und doch ließ sie den Mann gewähren. Erschöpft und auf das Vergessen vertrauend. Ein rauer Kuss, ein rascher Griff, ein Atemzug andauerndes Ersticken. Dann war es vorbei, war sie wieder allein.

Unsicher, was Wahrheit und was Rebsaftalbtraum war, schlich sie sich an Hauswänden und durch Schatten entlang. Unerbittlich setzte sich ein Fuß vor den anderen, ohne dass ihr Geist das Ziel kannte. Doch ihre Beine wollten fort von hier. Mehr Reflex als Entscheidung schoben sie den zierlichen Körper Stück für Stück voran – direkt ins nächste Unheil hinein.

Gierig grinsend erwartete sie eine ältere Frau, üppig geschminkt und aufdringlich parfümiert. Doch das alles konnte nicht den bösen Funken in ihrem Blick verbergen. Sie sah das Mädchen prüfend an, hatte es bereits seit der Begegnung mit dem Mann im Auge, als sie sich entschloss, es haben zu wollen.
“Mein liebes Kind, komm her zu mir. Ich gewähr dir Obdach und Essen, du bist ja ganz allein. Ich sorge mich um dich. Und dafür will ich nur ein wenig, nur ein bisschen von dir. Nichts, das du nicht kennst, nichts, dass du nicht bereits getan hast. Denn in Wahrheit bist du so wie ich. Komm nur her zu mir, wir zwei passen zueinander.”

Das Mädchen schloss die Augen. Sie atmete ein, sie atmete aus. Was hatte sie zu verlieren? Es war nichts mehr übrig. Kein Besitz, keine Würde, keine Ehre. Sie schlug die Lider auf und ergriff die Hand der Frau.

Und die Alte hielt Wort. Sie brachte sie in ein Zimmer, gab ihr Essen und ein Bett. Und im Gegenzug verlangte sie von dem Mädchen nur, still zu sein. Brav zu lächeln. Die Herren, die ein- und ausgingen, nicht zu verärgern. Und sie gehorchte. Dabei dachte sie bei sich: “Die Welt ist dunkel, da ist niemand, der mich sieht, wenn ich mein Hemd ausziehe. Was also macht es schon?”

Die Zeit verging, das junge Mädchen reifte heran und wurde mit jedem Tag schöner, berückender, begehrter. Bald schon steckten die Herren ihr heimlich goldene Taler zu. Sie funkelten wie Sterne. Jeden einzelnen bewahrte sie auf. Immer öfter auch flüsterten die Männer von der weiten Welt, dass sie sie dahin mitnehmen, sie dort für sich allein haben wollten. Und das Mädchen blieb stumm und lächelte brav und verärgerte niemanden. Alle wähnten sich als auserkoren, alle glaubten dem unergründbaren Schimmer in ihren tiefen, braunen Augen. Und immer mehr, immer weiter verfielen sie ihr.
Jeder goldene Taler gab dem Mädchen ein Stück Macht zurück. Sie begriff, dass sie mit diesem Reichtum und ihrer Schönheit aus ihrem Elend entkommen könne. Alles, was sie dafür tun musste, war ihre Seele tief in sich einzuschließen, nur noch ein bisschen, eine kleine Weile lang.

Endlich eines Tages also warf sie der Alten einen Beutel prall gefüllt mit Goldtalern hin. Sie starrte sie an und sagt entschieden: “Und nun werde ich gehen. Und wenn du mich lässt, wirst du durch mich reich für dein Lebtag sein. Doch darf ich nicht fort, wirst du es bereuen.” Es waren die ersten Worte, die die Frau das Mädchen sagen hörte und sie erzitterte vor der Kälte in ihrer Stimme und ihrem Blick. Darum ließ sie sie ziehen.

Umringt von ihren Verehrern, buhlten sie nun einer nach dem anderen um ihre Aufmerksamkeit. Sie überschütteten sie mit weiterem Gold, Perlen, Schmuck und Kostbarkeiten. Und wie sie es gelernt hatte, blieb die junge Frau still und lächelte brav. Die Männer wurden ungeduldig, bedrängten erst sie, dann einander. Schier wahnsinnig vor Habsucht entbrannte schließlich ein Kampf nach dem anderen und bald schon blieb keiner mehr übrig. Doch dem Mädchen machte das nichts. Stumm lächelnd packte sie ihre Habseligkeiten ein und verließ die Stadt, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.

In einem anderen Ort, wo sie niemand kannte, ließ sie sich am Waldrand nieder. Keiner beachtete sie mehr, sodass sie endlich ihre Maske ablegen und ihre tief eingeschlossene Seele befreien konnte, um zu schauen, ob von ihr noch etwas übrig war. Klein und zerbrechlich stand sie da, kein bisschen mehr verlockend süß. Doch dieser Anblick gefiel ihr mehr, denn er war echt, ihr wahres Ich. Dem sie nun endlich selbst ein Dach über dem Kopf schenken konnte.

Als eines Tages ein fahrender Händler an ihre Scheibe klopfte und seine Ware feil bot, warf sie stumpf einen Blick darauf. Da erkannte sie das Etikett der alten Weinflasche ihres Vaters. Der Mann hatte eine ganze Kiste davon auf seinem Wagen. Das Mädchen kaufte ihm gierig alle ab und bat ihn, gern wiederzukommen, wenn er neue Flaschen bekäme.
Und keine Perle, kein Edelstein und kein sternengoldner Taler ließ sie sich so reich fühlen, wie der Tropfen des roten Rebsaftes, der ihr quälend süß langsam die Kehle hinabrann und sie endlich wieder vergessen ließ.