Der seltsame Gast
CN: Unfall, Tod, Drohung, Sexismus
Sharlas Urlaub dauerte nun schon einige Zeit an. Sie hatte sich in ihrer Berghütte gemütlich eingerichtet und genoss es, morgens mit einem heißen schwarzen Tee am Fenster zu sitzen und den Eisblumen, die ein fröhlich glitzerndes Bild in der aufsteigenden Sonne am Fenster malten, beim Tauen zuzusehen. Nur wenige kleine Schneehügel waren neben dem aufkeimenden Grün zu sehen. Einige wenige Schneeglöckchen standen im Beet ihrer Hofeinfahrt und klingelten mit ihren Blüten im sanften Wind. Der Frühling kehrte hier oben viel später ein als unten im Tal. Beim Schweifen über die von Fichten gesäumten Bergwiesen blieb ihr Blick an der kleinen Bergstraße hängen, die sich hier herauf wand. Ein gelbes Auto mit Posthorn an der Seite schlängelte sich langsam die Straße herauf. Zurzeit war sie allein hier oben, sie hatte keine der anderen Berghütten vermietet, deshalb war sie ja hier, die Postbotin hatte also nur sie als Ziel, aber wer sollte ihr etwas schicken? Die Botin würde noch mindestens fünf Minuten bis hier hoch benötigen. Sharla wandte sich ab und stellte den Kessel auf den Herd und erhitzte Wasser, hoffentlich war es noch dieselbe Botin, dann würde sie heute Morgen ein nettes Gespräch auf einen schnellen Kaffee haben. Dann klopfte es und Sharla öffnete, vor ihr stand aber nicht wie sonst die Postbotin, sondern ein streng aussehender Kerl mit grimmiger Miene. »Hätten se sich keinen entlegeneren Ort zum Wohnen suchen können?«, polterte er los.
»Ich mache hier nur Urlaub.«
»Hätten se sich keinen entlegeneren Ort für ihren Urlaub suchen können?«, motzte der Postbote.
»Was geht sie..«, aber Sharla wurde unterbrochen.
»Das ist auf jeden Fall, das letzte Mal, dass ich mich hier hochquäle, die übrige Post, die während ihres Urlaubs kommt, könnse sich im nächsten Dorf abholen.« Mit diesen Worten reichte er ihr einen schweren Brief. »Einschreiben, se müssen noch unterschreiben.«
Sharla fand ihre Worte wieder: »Und wie stellen sie sich das vor, ich habe kein Auto?«
»Nicht mein Problem, und unterstehen se sich, sich zu beschweren. Ich weiß, wo se wohnen und n anderen der hier die Post noch austrägt finden se eh nicht.«
»Was?«
»Se haben mich schon verstanden und jetzt schön Tag noch, ich muss weiter.« Damit drehte er sich um, knallte die Tür des Wagens hinter sich zu, wendete unsanft das gelbe Mobil und bretterte über das kleines Beet, das sie mühevoll im vergangenen Jahr angelegt hatte. Die Schneeglöckchen lagen nun zerschlagen im schmutzigen Braun.
Wütend knallte Sharla die Tür hinter sich zu, warf den Umschlag auf den Tisch und krallte sich ihr Handy. Zum Glück war das Netz hier stabil. Sie suchte die Nummer der Beschwerdehotline der Post raus und wurde mit einer nervigen Warteschleifenmusik belohnt. Minuten verstrichen, sie besah sich den Umschlag. In ihrer Wut hatte sie nicht geschaut, wer ihr schrieb. Dickes, mit einer Lilie geprägtes, strahlend weißes Papier. Ihre Adresse in leuchtendem Kobaltblau. Sie drehte den Umschlag, kein Absender, nur ein schwarzes Wachssiegel mit ähnlicher Lilienprägung. Roch sie da auch den Hauch eines Lilien-Parfüms? Die Musik wurde unterbrochen und eine Computerstimme sagte: »Leider sind zurzeit alle Leitungen belegt. Ihre erwartete Wartezeit beiträgt geschätzt fünfzig Minuten. Sie können aber auch unser Online-Formular nutzen oder uns eine E-Mail an …«
Sharla legte auf. Ihre Wut war von der Neugier auf diesen Brief verdrängt worden. Sie nahm ihn in die Hand, betastete bewusst das schwere Papier. Das wird sicher teuer gewesen sein. Und dann noch ein Einschreiben. So etwas kostete doch. Wer machte sich also die Mühe und ließ ihr in Zeiten von E-Mail und WhatsApp so einen aufwendig gestalteten Brief zukommen?
Aus der alten schwergängigen Schublade in der Küche holte sie ein Messer und schnitt ganz vorsichtig die Oberseite des Briefes auf. Sie wollte auf keinen Fall den Inhalt des Briefes oder das Siegel beschädigen. Bedächtig zog sie an dem ebenso weißen Papier, das in dem Umschlag steckte. Der Lilienduft intensivierte sich. Und sie entfaltete ein einziges sehr dickes Blatt Papier. Zunächst konnte sie die Schriftzeichen nicht entziffern, die im selben Kobaltblau auf diesem schweren Papier gezeichnet waren. Gezeichnet war der richtige Ausdruck, denn die Worte waren so aufwendig verschlungen auf das Papier gebannt worden, dass die Schrift eher einem Kunstwerk, denn einem profanen Brief ähnelten. Sie besah sich die Schriftzeichen genauer und dann las sie:
Sehr geehrte Frau Reichardt,
ich hoffe, mein Brief erreicht sie rechtzeitig.
Mein Name ist Gangolf Engilfred und, wenn es mir erlaubt ist, würde ich in der Zeit vom 07.März.2022 bis 27.03.2022 eine ihrer Berghütten mieten. Ich werde am 07.März.2022 an ihrem Anwesen eintreffen. Ich hoffe sehr, dass dieser Brief sie erreicht, denn ich kann mir keinen anderen Ort für meinen Aufenthalt in den Bergen vorstellen.
Mit freundlichen Grüßen
Gangolf Engilfred
Darunter erneut das Lilienzeichen.
Wer sandte ein Brief, um eine Berghütte zu mieten und woher wusste dieser Gangolf Engilfred, wo sie anzutreffen war? Normalerweise wurden ihre Berghütten über die verschiedenen online Portale gebucht. Das war auch viel praktischer, da so sichergestellt wurde, dass der Reinigungsdienst informiert wurde und die Hütten vorbereitete. Ob sie so kurzfristig eine Hütte vorbereiten konnten? Das Datum, an dem der Herr ankommen würde, war heute. Sie wählte die Nummer vom Reinigungsdienst, aber niemand nahm ab. »Was soll es Sharla, selbst ist die Frau und du hast noch bis zum Abend zeit.«, sagte sie zu sich selbst.
Sie dachte an früher, als sie noch Charlotte gerufen wurde und ihre Eltern diese Hütten betrieben. Sie wusste, wie sie hergerichtet werden mussten, nur gab sie inzwischen diesen Teil der Arbeit an Dienstleister*innen ab, da sie in der Stadt lebte und dort arbeitete. Sie zog sich dicke Kleidung an und trat aus ihrer molligen Hütte. Sharla würde dem Herren die Hütte 8 vorbereiten. Sie mochte die Zurückgezogenheit und wollte ihn so weit wie möglich von sich weg haben. Eisiger Wind schnitt ihr in die Haut. Der Nachtfrost war noch nicht ganz aus der Luft verschwunden. Sie erklomm die Stufen zu Hütte 8 und öffnete die Tür des alten Holzhauses und trat in klamme, abgestandene Luft. Zum Glück hatten ihre Eltern Strom und Wasser legen lassen. Ein Förderprojekt ermöglichte es damals. Sie drehte den alten Bakelit-Schalter, und warmes Licht flutete das offene Wohnesszimmer der kleinen Hütte. Lüften, Staubwischen, Wäschewechsel, all das hielt sie mehr auf als gedacht. Gegen Mittag erreichte sie die Reinigungsfirma dann dennoch und konnte wenigstens veranlassen, dass bei Abreise die Endreinigung durchgeführt wurde. Erst gegen achtzehn Uhr, gerade als die Sonne unterging, war sie zufrieden mit dem Zustand der Hütte. Hoffentlich hatte der Herr an die Verpflegung gedacht, denn die Hütten boten einiges an Komfort, aber verpflegen musste man sich selbst.
Rasch ging Sharla in ihre Unterkunft zurück, wusch und zog sich um, da klopfte es schon an der Tür. Sie hatte kein Auto gehört?
Sie öffnete und vor ihr stand eine alte Frau in weiter schwarzer Kleidung. Hinter ihr etwas abseits, ein junger Mann mit antikem Schrankkoffer. Sharla sah kein Auto.
»Guten Abend. Frau Reichardt, nehme ich an«, sagte die Frau.
Sharla nickte.
»Sonderlich gesprächig scheinen sie nicht zu sein«, stellte die Frau fest und zog ihr Gesicht in tiefe Falten.
»Entschuldigen sie, ich bin nur etwas überrascht.«
»Hat sie der Brief meines Herren nicht erreicht?«
»Doch äh, entschuldigen sie, ich bin nur, wie sind sie hier herauf gekommen?«
»Unser Fahrer ist schon wieder fort, könnten wir nun die Hütte beziehen?«
Sharla griff zur Jacke, die sie neben der Tür hatte hängen lassen und trat hinaus. »Natürlich Frau …«
»Brunner.«
»Soll ich den Koffer nehmen?«, Sharla trat auf den jungen Mann zu und wollte gerade zum Schrankkoffer greifen, als der Griff eines Gehstocks ihre Hand unsanft zurückriss.
»Das schafft der junge Herr schon selbst«, sprach Frau Brunner energisch, ließ den Stock unter ihrem weiten Mantel wieder verschwinden und trat auf die Treppen zu Hütte acht zu. Woher wusste sie, wo sie, wohin sie mussten? Sharla hatte mit keiner Silbe die Hüttennummer erwähnt. Das Ganze kam ihr nun noch seltsamer vor. Der junge Herr, wie ihn die Alte nannte, hatte bisher nicht ein einziges Wort gesprochen.
»Kommen sie«, trieb die Stimme der alten Sharla an.
»Sehr wohl.« Sprach sie und war kurz davor, einen Knicks zu machen. Folgte der Alten und dachte dabei, dass sie sie auf die Hütte brachte und dann hoffentlich ihre Ruhe hatte und so war es auch.
Die erste Woche verging ereignislos. Die im Ort bestellte Lebensmittel Lieferung kam pünktlich und der Lieferant hatte noch einen zweiten Karton für Hütte 8 dabei. Kein einziges Mal sah sie das seltsame Gespann draußen und abends sah sie von ihrem kleinen Fenster des Schlafzimmers nur sanftes Flackern von Kerzen und kein elektrisches Licht. »Jeder Jeck ist anders«, dachte sie und dachte dabei an zu Hause, den Stress und den Lärm der Stadt. Zu Beginn der zweiten Woche wurde sie von einem energischen Pochen an der Tür geweckt. Als sie öffnete, stand der unangenehme Postbote davor. »Ich habe gesagt, ich bringe ihren Scheiß nicht mehr hier hoch!«, polterte er.
»Ja und warum wecken sie mich dann?«
»Die Kuh, die die Postfiliale im Ort unten betreibt, hat gesagt, se nimmt nichts für die Hütten entgegen, Weisung von der Zentrale. Ich habe ihnen gesagt, dass ihnen nichts Gutes blüht, wenn se sich über mich beschweren.«
»Ich habe mich auch nicht beschwert.«
»Auch noch dreist lügen.«
»Sie lügt nicht«, drang eine strenge männliche Stimme vom Postwagen in ihre Richtung. Sharla sah, wie der junge Gast hinter wem Wagen hervortrat. »Hätten sie jetzt die Güte, mir mein Päckchen zu überreichen und sich dann zu entfernen. Frau Reichardt hat sicher Besseres zu tun als sich Drohungen, von ungehobelten Taugenichtsen anzuhören!«
»Wie haste mich gerade genannt, Bürschchen?«
»Erstens bin ich kein Bürschchen und zweitens haben sie mich mit: Sie und Herr Engilfred anzusprechen«, sagte ihr Gast in einem mehr als überheblichen Tonfall.
»Jetzt legenwa aber ganz seltsame Marotten an den Tag, von so einem hochnäsigen Fatzken lass’ ich mir gar nüschts sagen.« Mit diesen Worten schmiss der Kerl das mit einer Paketschnur verschnürte Päckchen in den Dreck und stapfte wutschnaubend zum Auto, zündete sich eine Zigarette an und stieg ein.
Sharla hob das Päckchen auf, es war schwerer, als die Größe vermuten ließ. Sie wischte den Schmutz beiseite. »Tut mir leid, Herr Engilfred, der Postbote ist neu.«
»Dafür können sie doch nichts und nennen Sie mich bitte Gangolf. Herr Engilfred bin ich nur für ungehobelte Menschen.« Er nahm das Päckchen entgegen.
Sharla lachte. »Möchten sie einen Kaffee, ich kann jetzt einen gebrauchen.«
Das Postauto raste in diesem Moment viel zu schnell vom Platz, nur, um erneut über das Blumenbeet zu rauschen. Sharla wandte sich erwartungsfroh ihrem Gast zu und sah, wie dieser boshaft grinsend hinter dem Postauto hersah. Kurz darauf war ein lautes Krachen zu hören. Sharla fluchte und sah, wie sich das Postauto um einen Baum gewickelt hatte. »Rufen sie den Krankenwagen«, schrie Sharla ihren Gast an und rannte zum Postauto.
»Das ist nicht nötig.«, sagte Gangolf in einem Tonfall, der Sharla das Blut in den Adern gefrieren ließ.