Sichtbare Unsichtbarkeiten
Text:Palandurwen
CN: Schwere Gedanken / Traurigkeit, Einsamkeit
Es war ihre geheime Wunderkraft.
Eine Macht, die sie so niemals gewollt hatte.
Ohne die sie ihr Leben aber nicht kannte.
Unsichtbarkeit.
So lange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie immer das Gefühl, dass Leute sie übersahen. Durch sie hindurch blickten. Als sei sie ein trübes Glas, unschön angelaufen mit der Zeit und es darum nicht mehr die Mühe wert, geputzt zu werden. Man bemerkte die Scheibe, aber man sah sie nicht wirklich.
Unsichtbar eben.
Sie stand am Fenster und schaute hinaus ins ungemütliche Treiben. Schneeregen, der durch einen straffen Wind von Rechts nach Links gepeitscht wurde. Bei diesem Wetter bekamen die meisten Leute schlechte Laune. Sie beklagten sich, es gäbe zu wenig Sonne und sei zu nass, zu kalt, und überhaupt. Doch sie selbst fühlte sich dann immer ein bisschen ruhiger. Wenn draußen alles in diesem tristen Grau zu ertrinken begann, war es, als würde sie gleich eine Wasseroberfläche durchbrechen und endlich einen tiefen, klaren Atemzug nehmen.
Dennoch fröstelte ihr. Sie zog ihre übergroße, grüne Strickjacke enger um sich und legte mit einem leisen “Donk” ihre Stirn an der eisigen Scheibe ab. Ihre Wimpern streiften fast das Glas, es war mehr eine Vermutung, als ein Spüren. Das würde eine unschöne, fettige Stelle auf dem Fenster hinterlassen, dachte sie noch. Die könnte man aber immerhin nicht übersehen.
Ziellos lag ihr Blick auf der Straße vor ihrem Haus und wartete darauf, von etwas aufgehoben zu werden. Wie bestellt, drangen mehrere Paar Füße in ihr Sichtfeld ein. Zweimal blinzeln, dann stellten sich ihre Augen wieder scharf. Eine kleine Gruppe Menschen mit bunten Ballons hatte sich vor dem Nachbarhaus versammelt. Sie wuselten kurz unkoordiniert durcheinander. Das unerfreuliche Wetter wehte Kichern und eifrig-organisierende Satzfetzen undeutlich zu ihr hinauf. Die kleine Meute klingelte und setzte zum Singen an.
Sie seufzte. Ganz kurz hatte sie geglaubt, die Leute wären für sie gekommen. Immerhin war es auch ihr Geburtstag. Aber natürlich nicht. Wie auch?
Sie war schließlich unsichtbar.
Frustriert drehte sie sich um 180 Grad und lehnte ihre Rückseite an die unwirtliche, glatte Oberfläche. Die Kälte arbeitete sich langsam durch die mehreren Lagen Stoff bis zu ihrer Haut an den Schultern vor. Doch ihr war es egal.
Der Gedanke der Unsichtbarkeit ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Sie wurde ihr vielleicht sogar schon in die Wiege gelegt, überlegt sie, während sie auf ihrer Unterlippe herumkaute.
Berlin.
Siebenter Februar, Neunzehnhundertneunundachtzig.
Wolkig.
Maximaltemperatur: Elf Komma Sieben Grad Celsius.
Es war ein Veilchendienstag.
Ihre Mutter erzählte immer davon, dass sie keine Lust mehr aufs Schwanger-Sein hatte. Es ging das Gerücht um, dass sie sogar absichtlich am Vorabend durchs Zimmer gesprungen war, um gewisse Prozesse in Gang zu bringen. Wie viel davon stimmte, wusste sie nicht. Aber es wäre irgendwie bezeichnend gewesen. Der Start in ihr Leben, weil jemand anderes ungeduldig war. Weil sie jemand anderen langweilte?
Über die Geburt selbst wusste sie nicht viel, nur dass ihre Mutter ebenfalls immer scherzhaft sagte, ihre Tochter hätte ein schlechtes Timing gehabt: Acht Uhr Dreißig – gerade zur Kaffeepause. Danach hätte sie noch den ganzen Tag arbeiten müssen.
Ein Witz, natürlich. Aber irgendwie auf ihre Kosten. Wenn das das wichtigste Problem gewesen wäre …?
Da gerade Fasching war, bekamen alle Kinder auf der Station eine rote Nase gemalt, das sei doch so drollig und lustig. Nur die Neugeborenen nicht. Die waren davon ausgeschlossen. Sicherlich keine Praktik, der man böse sein könnte. Die kleinen Winzlinge hatten an diesem Tag genug anderes zu verdauen. Eigentlich fand sie selbst das auch immer gut. Aber auf der anderen Seite war das vielleicht auch wieder ein Symptom ihrer Unsichtbarkeit?
Manchmal fragte sie sich auch, ob das Wetter an ihrem Geburtstag eine Art Voraussage war. Wolkig, nicht wirklich eiskalt, aber auch nicht warm. Weder Fisch, noch Fleisch. Kaum bemerkenswert.
Mit einem Wort: Unspektakulär.
So, dass man sich nicht wirklich daran erinnerte.
Auch irgendwie … unsichtbar.
Sie schüttelte einige Male kräftig den Kopf hin und her, als könne sie die trüben Gedanken wie eine lästige Fliege verscheuchen. Das brachte auch nichts. Jammern und Selbstmitleid waren seit einiger Zeit schon gute Freunde der Unsichtbarkeit geworden und gingen für ihren Geschmack mit viel zu großer Selbstverständlichkeit bei ihr im Herzen ein und aus. Dem wollte sie endlich einen Riegel vorschieben.
Mit einem genervten Seufzer drehte sie sich wieder zum Fenster um und blieb an dem kleinen, unregelmäßig geformten Fettfleck hängen. Grimmige Befriedigung legte sich auf ihr Gesicht, weil sie ihn nicht übersehen hatte. Erst danach zog die Welt dahinter ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Aus dem Grau in Grau und den kleinen Eisgeschossen des Himmels waren dicke, wattige Flocken geworden. Sie fielen dicht an dicht herunter und sammelten sich schon in einer immer weniger löchrigen Decke auf dem Boden.
Sie dachte an diesen herrlichen Duft nach Schnee, der bald in der Luft liegen würde, den aber scheinbar nur sie riechen konnte.
Ihr jagten schon kleine Schauer der Vorfreude über den Rücken, wenn sie an das freundschaftliche Knabbern der Kälte an ihrer Haut im Gesicht und an den Händen dachte.
Und sie konnte es kaum erwarten, den Klang der verschneiten Welt endlich wieder zu vernehmen, so dumpf und gesättigt und dann wieder klirrend und knackend. Eine wahre Symphonie der Stille.
Mit verschränkten Armen, den Kopf in den Nacken gelegt, verfolgte sie die Flocken mit den Augen, wie sie tanzend das Draußen in reines Weiß tauchten, bis es selbst kaum noch zu sehen war.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
Ein Vorteil der Unsichtbarkeit war wohl, dass nur sie die Gelegenheit hatte, Dinge zu entdecken, die niemand sonst bemerkte. Weil sie für alle anderen auch unsichtbar waren.
Aber für sie bedeuten sie so viel.
Und irgendwann würde sie auch so eine sichtbar gewordene Unsichtbarkeit für jemanden werden.
Das hoffte sie zutiefst.