Die ewige Nacht

Text: Gipfelbasilisk
Bild: Midjourney
CN: Blut, Gewalt explizit, milde Erotik, Mord

Melisande war gerade sechs, als der Zirkel ihre Fähigkeiten entdeckte. Es war Fluch und Segen zugleich. Es rettete ihrer Familie das Leben, zwang sie aber in die Fänge der Schwestern. Sie verschonten das Leben der Familien der Kinder, die sie aufnahmen. Zumindest sagte man das Melisande. Sie hatte aber in all der Zeit gelernt, dass man den Schwestern vor allem der Mutter Oberin nicht alles glauben durfte, was sie sagte.
Melisandes Fähigkeit war es Wachs wie Ton zu formen. Zumindest sagte die Mutter Oberin das immer, auch wenn Melisande diesen Vergleich seltsam fand. Warum sollte ein Wesen Ton wie Wachs formen, dass ergab doch überhaupt keinen Sinn. Melisande vermutete, dass diese Redewendung aus einer früheren Zeit stammen musste.

Es wurde Abend und es war für Melisande Zeit aufzustehen. Sie hatte den Tag wie immer in tiefen Meditationen versunken in ihrer Zelle verbracht. So war es für die Schwestern vorgesehen. Der Tag war den Brüdern und den Oberen vorbestimmt, die Nacht den Schwestern. Sie waren die Hüterinnen der Nacht. Sie legte ihr aschgraues Meditationsgewand ab und schlüpfte in die schwarze enge Arbeitskleidung. Vorsichtig befestigte Melisande das Tuch, das ihre Gesichtszüge verdecken würde. Es war die Zeit des Übergangs, sie würde noch auf Brüder treffen und es war ihr als Novizin verboten ihre Gesichtszüge zu zeigen. Wie sehr sehnte sie den Tag entgegen, an dem sie dieses Tuch nicht mehr benötigte. Es würde nicht mehr lange dauern. Sie war inzwischen neunzehn, fast zwanzig und bald würde sie ihre Prüfung ablegen und damit das Tuch. Sie sah an sich herab. Prüfte, ob alles da saß, wo es sitzen sollte, und schnürte das Korsett, dass ihren Körper in eine rechte Position zwang noch etwas enger.
Ein Korsett aus Regeln und Magie. Ein Käfig. Käfig? Melisande ließ sich das Wort auf der Zunge vergehen, es war der richtige Ausdruck.
Das Korsett durfte sie ablegen, sobald sie der Schwesternschaft ein Kind gebar, aber dem eigentlichen Käfig, der Schwesternschaft, dem Zirkel würde sie nie entkommen. Das tat keiner.
Durch die Klappe ihrer Zelle wurde ein Brief gesteckt. Schwarzer Umschlag, goldene Lettern. Ein Brief der Mutter Oberin. Melisande lächelte. Ein Brief bedeutete, sie würde heute ihre Arbeit ohne Aufsicht der Mutter Oberin verrichten. So etwas war selten, war sie doch die wichtigste Novizin des Zirkels. Die letzte Kerzenzieherin war schon seit fast einem Jahrhundert verstorben und sie war die Erste seit dem. Ein Zirkel war nur so stark wie seine Kerzen und dieser hatte, seit dem sie angefangen hatte zu wirken, massiv an Macht hinzugewonnen. Sie öffnete den Umschlag und eine Karte aus schwerem, schwarzen Papier mit ebenso goldener Schrift kam zum Vorschein.

»Melisande, ich habe heute einen wichtigen Termin in der Stadt. Du musst eine Dämmerungskerze herstellen. Ich habe leider niemanden gefunden, der deine Arbeit überwachen wird. Ich erwarte, dass du deine Arbeit zu meiner vollsten Zufriedenheit verrichten wirst. Ich werde dich zum Dämmerungsritual abholen. Mutter Oberin«

Zehn Tropfen Wachs ohne Kontrolle. Melisandes Herz begann wild in der Brust zu pochen. ie hatte viel zu tun. Dämmerungskerzen waren aufwendig, aber vielleicht würde sie ein paar Momente zum Spielen haben.
Sie kontrollierte mit den Händen, ob das Tuch vor ihrem Gesicht richtig saß, einen Spiegel um ihr Aussehen zu kontrollieren, besaß sie nicht und öffnete die Tür. Ein junger Bruder sprang erschrocken zurück und neigte den Blick. Stumm schritt sie an ihm vorbei durch die kalten, von Fackeln beschienenen Gänge. Sie lächelte, dass der Zirkel noch nicht zu alter Stärke zurückgefunden hatte, sah man daran, dass auf den Gängen kein Wachs verschwendet wurde. In ihren ersten Lehrjahren musste Melisande mit Fett üben, weil sich der Zirkel kein Wachs leisten konnte. Das änderte sich aber schlagartig, nachdem auf einem der hohen Feste Melisandes Künste vor den anderen Zirkelen offenbart wurden. Sie konnten sich seit dem nicht mehr vor Aufträgen retten und so war es ein Leichtes, den Wachs für ihre Ausbildung zu ertauschen.
Sie holte den großen schwarzen Schlüssel heraus, der zu ihrem Labor führte. Nur zwei Menschen hatten den Schlüssel für diesen Raum und nur wenige Menschen durften diesen Raum betreten und ihn anschließend auch wieder lebendig verlassen.
Sie betrat den finsteren Raum mit einer schlafwandlerischen Sicherheit. Sie schritt im Uhrzeigersinn die Kerzenstehlen ab und entzündete die Bordeaux roten Trancekerzen. Dabei murmelte sie die Verse, ihrer Vorfahren, um die Magie, die in den Kerzen gebunden war, freizusetzen. Der schwere Duft der Kerzen hing bald schon im ganzen Raum und vernebelte ihr die Sinne. Nachdem die letzte Kerze entzündet war, schloss Melisande die Augen und stellte sich in die Mitte des kreisrunden Raumes. Sie atmete tief den schweren Duft ein, sandte ihren Geist in alle Ecken des Raumes und verband sich mit den Kerzen. Sie öffnete die Augen und der Raum wurde für sie taghell. Zumindest stellte sie sich so den Tag vor. Sie liebte diesen Moment. Die Welt wurde für sie, durch die Magie der Kerzen etwas lichter. Sie waren ihre Freunde, ihre Verbündeten. Die fünf Trancekerzen waren ihr erstes Werkstück, mit echtem Wachs und der Einstieg in wahre Kerzenmagie.
Seit zehn Jahren brannte sie diese Kerzen schon ab und sie waren gerade mal einen Finger breit heruntergebrannt. Die Macht einer Kerzenzieherin zeigte sich in der Brenndauer einer Kerze.
Sie trat an ihre Werkbank und sortierte ihre Werkzeuge. Das schwarze Metall fühlte sich warm in ihren Händen an. Dann trat sie an ihr kleines Lagerregal, in welchem ein Wachsrohling zum beschnitzen stand. Sie hatte ihn vor einigen Wochen gegossen. Der Wachsrohling war inzwischen ausgehärtet und sie konnte ihn für ihre Arbeit verwenden. Sie strich sanft über den schwarzen Wachs, in dem verschiedenste Kräuter und Öle eingearbeitet waren. Es war, wie sie fand, ihre bisher beste Arbeit und sie würde sie für die Dämmerungskerze verwenden. Es war ihre Erste.
Sie legte den Rohling vorsichtig auf ein Samttuch und entzündete den danebenstehenden Wachsbrenner und befüllte ihn, mit Wachs der für diesen Rohling benutzt wurde. Er war notwendig, um später Details auf der Kerze herauszuarbeiten.
Melisande vernahm Schritte auf dem Flur. Es war so weit. Die beiden Brüder, die ihr zugeteilt waren, brachten das Abbild für den Abend. Die Tür öffnete sich und zwei Novizen traten ein. In ihrer Mitte ein nackter Mann, der schlief. Melisande, lies es sich nicht anmerken, aber der Kerl gefiel ihr.
Die Novizen stellten den Mann in der Mitte ihres Kerzenkreises ab, verneigten sich dann, erst vor ihr, dann vor den Kerzen und schritten ein Pentagramm um den Mann ab. Sie liefen dabei in entgegengesetzte Richtungen und zeichneten anschließend mit ihren Händen verschiedene magische Symbole in die Luft, deren Bedeutung Melisande nicht kannte. Sie war fasziniert von dieser direkten Form der Magie, die nur den Brüdern vorbehalten war. Nicht einmal die Mutter Oberin wurde in diese Geheimnisse eingeweiht. Aber Melisande beobachtete und lernte, was sie nur konnte. Heimlich, tagsüber ahmte sie die Symbole der Brüder erfolglos nach. Wenn sie schon in diesem Zirkel gefangen war, dann wollte sie irgendwann die Mächtigste sein.
Die dunkelen Haare des jungen Mannes bewegten sich und dann lösten sich seine Füße vom Boden und er schwebte in der Mitte des Kreises in der Luft. Die beiden jungen Novizen verneigten sich erneut vor Melisande und verließen dann stumm ihr Labor. Wie sehr wünschte sie sich, einmal angesprochen zu werden, aber es war ihnen unter Todesstrafe verboten mit einer Frau zu sprechen.
Der unbeaufsichtigte Kontakt war ihnen nur erlaubt, weil sie etwas Besonderes war und nur die Brüder die Abbilder schweben lassen konnten und sie so mit dem Raum und ihrer Magie verbanden.
Wieder allein, setzte sich Melisande hinter ihre Werkbank, nahm Wachs und Werkzeug in die Hand und fing an, das Abbild zu formen. Sie betrachtete dabei das Abbild, den Leib sehr genau. Seine Augen waren geschlossen, er hatte langes dunkeles Haar, das bis unter seine Schulterblätter herabhing. Er war wohl genährt und schien gesund zu sein.
Sie schloss die Augen und betastete seinen Körper mit der Magie der Kerzen. Durch sie nahm sie jede Narbe, jedes Muttermahl, jede Falte und auch jede Regung seines Körpers wahr. Sanft strich sie mit dem Duft über seine Haut. Sie wusste, dass er es fühlen würde. Sie sah die Regungen seines Körpers deutlich. Der flackernde Schein der Kerzen umspielte seinen Leib.
Sie lächelte. Diesen Moment hätte sie mit der Mutter Oberin im Raum nicht gehabt. Sie betastete die Seele des Mannes und sie formte sich um seinen Körper in den schillernsten Farben. Die meisten hatten eine. Wenige zwei. Aber solch ein Schillern. Es würde eine wahrhaft mächtige Kerze werden, die sie heute Nacht erschaffen würde. Mit seiner Seele und ihrer Magie.
Sie hoffte, dass der Mann, der ihr bestimmt war, eine ebenso starke Seele hatte, wie er.
Zuletzt besah sie sich seine Hände. Auf sie setzte sie ein besonderes Augenmerk. Für sie waren die Hände der wichtigste Teil des menschlichen Körpers. Durch sie konnte man Zärtlichkeit und Zuneigung ausdrücken, sie konnten Berühren, diesen Teil kannte sie noch nicht und sehnte ihn herbei. Sie konnten erschaffen, was wunderschön war. Doch ebenso vermochten sie zu zerstören. Gewalt und Härte auszudrücken, diesen Teil kannte sie viel zu gut.
Für sie war ihr Handwerk eine wunderschöne Kunst. Auch wenn es hieß, beides tun zu müssen. Zu erschaffen und zu zerstören.
Sie sah auf ihre Hände herab und erblickte ein perfektes Wachsbild des Leibes der, vor ihr in der Luft schwebte. Nun musste sie prüfen, ob es geklappt hatte. Sie erhob das Abbild in die Luft, sodass sie den Mann wie sein Abbild gleichermaßen sehen konnte, und löste die Magie der Trancekerzen von seinem Körper und richtete sie auf das Kerzenabbild.
Sanft hauchte sie über das Wachsabbild und sah, wie sich auf seiner Haut die Härchen aufstellen. Dann strich sie sanft über das Wachsabbild und er stöhnte lustvoll auf. Sie prüfte mit der kleinen Uhr auf ihrer Werkbank die Zeit und ärgerte sich, sie hatte zu lange gearbeitet und nun keine Zeit mehr zu spielen. Schade. Ein letzter hauch, eine letzte Berührung, dann wandte sie sich wieder der Arbeit zu.
Sie fokussierte die Kehle des Wachsabbildes und ihr spitzer scharfer Fingernagel schnitt sie durch. Die Augen des Mannes öffneten sich. Eisblau. Ein überraschtes aufstöhnen und dann schlossen sie sich für immer. Rot lief es aus seiner Kehle herab.
Melisande stellte sich zusammen mit dem Kerzenabbild unter den roten Regen und vollzog ihren traurigen Tanz, um auch das letzte bisschen seiner Seele in die Dämmerungskerze zu zwingen. Sie hasste sich dafür ihn zu töten, aber sie hatte keine andere Whal.
Der Tanz versiegte zusammen mit dem Blutstrom. Hinter sich hörte Melisande wie die Tür aufging.
»Wie ich sehe bist du fertig.«
»In diesem Augenblick Mutter Oberin«, antwortete Melisande ehrfurchtsvoll, während sie ihren Körper in eine Verbeugung zwang.
»Sehr gut, dann komm mein Mädchen, die Dämmerungszeremonie wird gleich beginnen und es ist heute an dir die Kerze zu entzünden.«

Melisande trat auf die kleine Empore, auf der an jedem Morgen die Dämmerungskerze entzündet wurde. Die letzte Kerze hatte ihr letztes Licht ausgehaucht und damit auch die Seele, die in ihr gefangen war. Somit war aber auch das letzte Werk ihrer Vorgängerin ausgelöscht.
Normalerweise war es die Aufgabe der Mutter Oberin, die Kerze zu entzünden. Weil jedoch eine Neue erstmalig entzündet wurde, war es nun an Melisande dieses Werk zu verrichten.
Es war seltsam, hier oben zu stehen, von so vielen beäugt zu werden, ganz ohne den Gesichtsvorhang. Es waren zwar nur Frauen anwesend, dennoch. Sie war so sehr an das schützende Tuch gewöhnt, dass sie es sich jetzt herbeisehnte. Komisch diese Ambivalenz zwischen gesehen werden wollen und sich nun am liebsten verbergen.
Die Zirkelistinnen begannen mit den Beschwörungen. Das Summen drang in Melisande, füllte sie aus, berauschte sie. Die Kraft des versammelten Zirkels spürte sie zum ersten Mal.
»Es war eine viel zu Lichte Zeit meine Schwestern«, begann die Mutter Oberin. »Heute wird unsere Kerzenzieherin Melisande uns, in ein neues Zeitalter der Dunkelheit führen und diesen Zirkel aus der Bedeutungslosigkeit erheben.«
So große Worte für sie. Nein die Worte galten nicht Melisande, sie wollte sich nur bei ihr einschmeicheln, sie ruhig stellen, sie bezirzen, damit sie weiterhin den braven Schoßhund mimte.
Die Beschwörungen nahmen an Intensität zu. Am Horizont sah Melisande einen dünnen roten Streifen. Die Sonne nahte. Das Rot kroch wie das Monster, das unter den Betten kleiner Kinder lauerte, auf dem weiten Meer, immer weiter vor und streckte seine ersten dürren Finger nach dem Anwesen des Zirkels aus.
Die Mutter Oberin räusperte sich.
Melisande konzentrierte sich wieder auf die Beschwörungen. Aber ihre Hände zitterten und ihre Gedanken schweiften ab. Es war nicht so, als ob eine Dämmerungskerze den Aufgang der Sonne verhindern würde. Das vermochte keine Magie. Die Kerze erschuf einen schwarzen Nebel, der den Himmel verdunkelte, sodass ewige Dämmerung herrschte. Zumindest war es Zeit ihres Lebens so gewesen. Die Dichte und Ausdehnung des Nebels, war gleichbedeutend mit der Macht eines Zirkels. Von ihr wurde Großes erwartet.
Sie öffnete die Augen und atmete tief durch. Erste Lichtstrahlen fraßen sich das Fundament des Gebäudes hinauf. Sie ließ sich in den Wellen der Magie treiben und dankte dem Mann für sein Opfer, als sie die Kerze zur Hand nahm. Sie dachte an die schönen eisblauen Augen und verabschiedete sich.
Die Mutter Oberin sprach in strengem Tonfall: »Was machst du Kind? Fahre fort, es ist höchste Zeit!«
»Sehr wohl Mutter Oberin!« Hörte sich Melisande von weit weg sagen. Die Kerze in ihrer Hand vibrierte vor Macht. Sie stellte das Wachsgebilde, dass den Mann in seiner ganzen Pracht zeigte auf dem Altar ab. Stille kehrte ein. Jetzt war es einzig an ihr.
Der einzige Zauber, den eine Frau aktiv wirken durfte. Sie konzentrierte sich auf den Docht der Kerze breitete die Arme aus. Das Summen um sie herum hob wieder an. Sie erhob ihre Arme langsam. Das Summen nahm zu, wurde intensiver, je höher Melisandes Arme stiegen. Sie spürte, wie ihr Körper zu wippen begann und im Zauber aufging. Ihre Hände berührten sich über ihren Kopf. All ihre Wärme jagte aus ihrem Körper in die Kerze hinein. Raureif benetzte ihre Lippen. Schreie? Bewundernde schreie. Die Wärme kehrte als Hitze zurück. Eine Stichflamme stob aus dem Docht der Kerze gen Himmel. Bohrte ein Loch in die Wolkendecke. Aus dem Fuß der Dämmerungskerze verbreitete sich ein dichter schwarzer Nebel. Der den Altar wie flüssiges Nass herabrann.
Melisande beobachtete das Schauspiel erstaunt.
Bewegte sich da ein Schatten im Nebel? Wesentlich schwärzer als der Nebel selbst? Ja da war etwas. Der Schatten berührte ihre Füße, lief ihre Beine herauf, sandte ihr Schauer durch den Körper. Wohlige Schauer. Lief ihr Rückgrat, zart streichelnd herauf und legte sich wie eine zweite Haut über ihren Körper. Das Drumherum verschwamm, stoppte. Sie nahm nur noch ihn, das Schwarz, den Schatten und zwei eisblaue Saphire die in der Masse schwammern, wahr
»Ich bin dein und du bist mein, dieser Zauber soll fortan ewig sein. Dem Zirkel zur ehr, den Feinden zur Strafe.«
»Du bist es, du der Schatten, der Mann, den ich morden musste«, dachte Melisande. Sie verstand.
»Ja und gemeinsam werden wir Rache nehmen an denen, die uns zur Grausamkeit zwangen. Aber erst mal, genieße deinen Triumph, lass dich feiern, werde stärker, wachse und dann, wenn der Tag gekommen ist, werden sie leiden.«
»Entschuldige, dass ich dir das Antun musste.«
Der Schatten schlang sich fester um sie, es verschlug ihr den Atem. Er war wie ein Korsett nur enger, doch gleichzeitig fühlte sie sich stärker denn je.
»Du hattest keine Wahl. Ich war dir bestimmt im Leben, nun bin ich dir bestimmt im Tod.«
»Was meinst du damit?«
»Das wirst du noch früh genug erfahren.«
Das Gespräch im Geist dauerte nur Augenblicke.
Aus seiner Erstarrung befreit begann der Nebel wieder zu fließen. Melisande atmete tief ein und drehte sich zur Mutter Oberin um. War sie ein Stück gewachsen?
Langsam erhob sie die Arme und der Nebel erhob sich ihrem Befehl folgend gen Himmel. Absolute schwärze verhüllte das aufkeimende Licht. Eine Glocke aus Dunkelheit so undurchdringlich wie keine zuvor.
Melisandes Blick senkte sich auf die Mutter Oberin, die sie schockiert anstarrte. Wusste sie, was gerade vor sich gegangen war? Melisande trat herab und stand ihr nun gegenüber.
Die Mutter Oberin blinzelte zuerst und sprach: »Melisande, ab heute bist du keine Novizin mehr. Eine Prüfung von dir zu verlangen wäre ein Frevel angesichts dessen, was du heute erschaffen hast.« Die Mutter drehte sich zu dem Zirkel, der sich inzwischen stumm hinter ihr versammelt hatte. »Dieser Zirkel ist von heute an kein Dämmerungszirkel mehr, sondern ein Zirkel der ewigen Nacht. Trete an meine Seite Melisande meine Tochter.«
Melisande stockte. Das hatte sie nicht erwartet. Die Mutter Oberin hatte sie gerade vor allen weiblichen Zirkelmitgliedern adoptiert. Das würde ihr Vorhaben nicht leichter gestalten. Als Erbin der Mutter müsste sie ihre Position verteidigen, eigentlich dachte sie aus den Schatten heraus, die Angreiferin zu sein. Zudem würde sie dem wachsamen Blick der Oberin noch seltener entkommen.
»Keine Sorge, wir finden einen Weg«, hauchte ihr der Schatten in das Ohr und sandte ihr einen erneuten wohligen Schauer durch den Körper.