Das Echo der Herzen
CN: Verwandlung – Sterben
Text: Palandurwen
Bild: Midjourney
Tok. Tok. Tok.
Mara schlug die Augen auf.
Da war es wieder. Dieses Klopfen. Jede Nacht dieses elende Klopfen. Es würde sie noch in den Wahnsinn treiben.
Anfangs war es nur gelegentlich vernehmbar gewesen. Leise, unregelmäßig, kaum ans Ohr gedrungen, schon vorbei. Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Mit der Zeit aber wurde es deutlicher. Eindringlicher. Ja, fast fordernd.
Also hatte sie begonnen, die Leitungen auf Baufälligkeit hin zu überprüfen. In alten Häusern dehnten diese sich ja gern vom heißen Wasser erwärmt aus, um sich dann wieder geräuschvoll zusammenzuziehen. Fast, als würde man atmen, hatte sie kurz gedacht.
Doch selbst als alle Ventile und Dichtungen ausgetauscht waren, blieb das Klopfen vehement.
Tok. Tok. Tok.
Von Nacht zu Nacht, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat nahm es zu, wurde lauter, riss sie erbarmungslos aus den ersten Sekunden süßen Dämmerschlafs wieder heraus. Fast erwartete sie die Geräusche schon, die sich in ihrem Kopf hämmernder anhörten, als sie wahrscheinlich waren. Doch es ließ sie nicht mehr schlafen. Die grau-violetten Schatten unter ihren Augen erzählten jedem, der es hören wollte, Geschichten davon – und allen anderen auch. Sie war immer mehr ein regelrechtes Wrack.
Restlos zermürbt grub in dieser einen Nacht die junge Frau also ihre ewig kalten Füße – der eklatante Mangel an Nachtruhe hatten diesen Zustand nicht unbedingt verbessert – ungeduldig aus dem kleinen Bettdeckennest heraus, welches sie sich vor dem Einschlafen stets baute. Mit einem leisen Patschen trafen ihre nackten Sohlen auf dem Holzfußboden auf. Sie erhob sich und beim ersten Verlagern ihres Gewichtes gaben die Dielen ein grelles Knarzen von sich.
Mara erstarrte.
Das Klopfen war verstummt.
Sie verharrte in ihrer Position. Mitten im Schritt, die Arme Gleichgewicht suchend ausgestreckt, den Atem angehalten. Dieses Spielchen kannte sie schon. Immer, wenn sie glaubte, der Spuk sei vorbei und sie kuschelte sich gerade wieder ein, begann das Trara von vorn. Doch heute wollte sie nicht nachgeben. Wollte nicht Attraktion für was auch immer sein, indem sie sich wie fremdbestimmt in dieses Hamsterrad begab. Lieber stand sie minutenlang wie mitten in der Bewegung versteinert auf der Stelle und wartete.
Und wartete.
Und endlich.
Tok. Tok. Tok.
Grimmig grinsend ließ sie die Luft entweichen und holte Schwung für einen weiteren Schritt. Bei jedem Knarzen stoppte sie erneut. Wartete ab, bis das Klopfen wieder erklang, und folgten ihm peu-a-peu wie einer akustischen Brotkrumenspur, bis sie – gefühlt Stunden später und völlig erschöpft – mit der Nase direkt vor der Wand stand.
Der Wand, aus der nun völlig klar und scharf umrissen das Klopfen direkt in ihren Schädel drang.
Tok. Tok. Tok.
Mara legte ihr Ohr an die Tapete, eine Hand daneben. Sie spürte die Struktur des floral bedruckten Schmuckpapieres, das war nicht weiter verwunderlich. Auch der leicht feuchte und etwas staubige Geruch, der ihr in die Nase kroch, störte sie nicht weiter. Es war eben ein altes Haus und hier oben im Dachstuhl erst recht nicht gut gepflegt worden über die Jahre. Was ihr jedoch die Kälte aus den Füßen binnen eines Wimpernschlages das Kreuz emporschießen und sich über ihre Schultern ergießen ließ, war ein Windhauch.
Ein Windhauch, der direkt auf ihre Haut traf, gezielt, kratzend, unnatürlich.
Er kam erst direkt aus dem Mauerwerk und sog sich dann darin wieder zurück.
Die Wand atmete.
Fassungslos von diesem Gedanken aus ihrer stoischen Ursachensuche herauskatapultiert wollte sie einen Satz zurück machen. Doch sie konnte sich nicht lösen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Fleck, auf dem eben noch ihre rechte Hand gelegen hatte. Doch von dieser war nicht mehr viel zu erkennen. Als sei ihr Fleisch in die Wand eingesunken, hoben sich ihre Konturen kaum noch unterscheidbar davon ab, hatte ihre Haut bereits die Musterung der Tapete angenommen. Und es breitete sich langsam nach oben kriechend entlang ihres Armes aus.
Hatte das Klopfen es jetzt doch geschafft?
Verlor sie ihren Verstand?
“Nein! Ich leide doch bestimmt nur an Halluzinationen wegen des Schlafmangels!”, stieß sie aus.
Der Windhauch wurde einen Zyklus lang schärfer, als hätte jemand verächtlich geschnaubt.
Auch das Klopfen wechselte einen Takt lang seinen sonst immer gleichen Rhythmus.
Dann war es wieder das stetige Tok, Tok, Tok.
Mara versuchte, ihre Hand zu bewegen.
Doch stattdessen, dass sie ihre Finger nah an das Gesicht heranziehen und dort eingehend recken und strecken konnte, ging nur eine kleine Welle unter der Tapete entlang. Sie steckte wirklich fest.
“Das kann doch nicht wahr sein! Was soll das denn, verdammt noch mal?”
Ihre Stimme schraubte sich in selbst für ihre Ohren unangenehme Frequenzen empor, getrieben von der aufsteigenden Panik in ihrem Hals.
Diesmal war der Sog des Windhauchs deutlich stärker. Er nahm sogar ganze Haarsträhnen mit sich mit, trieb sie gegen das Mauerwerk.
Mara zerrte mit aller Kraft an ihrer Hand. Doch immer weiter fraß die Wand ihren Arm, immer höher kroch die Tapete auf ihrer Haut.
Verzweifelt krallten sich ihre linken Finger um ihr – kaltes, sich bereits steinern anfühlendes – rechtes Handgelenk, wollten damit dem Appetit des Hauses Einhalt gebieten. Doch stattdessen wurde nun ihr gesamter Körper ruckartig und brutal nach vorn gerissen. Sie presste sich unfreiwillig an das Mauerwerk, spürte wie sie molekülweise damit verschmolz und innerlich gefror. Es ging sowohl blitzschnell als auch quälend langsam. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, konnte nicht glauben, was hier geschah.
Erstaunlicherweise tat es nicht weh – aber wie auch, Ziegelsteine konnten nichts empfinden. Der leicht modrige, abgestandene Geruch wurde ihr vom Windhauch direkt in die Lungen gezwungen. Breitete sich in ihr aus, trieb jeden Sauerstoff und damit das Leben aus ihren Zellen. Ihre Haut verlor jegliches Gefühl, wurde papieren und taub. Ihr letzter Blick ging zurück zu ihrem Bett, welches verlockend, verwaist unter der Dachschräge stand, als geschehe hier nicht gerade etwas vollkommen Unglaubliches. Und fast meinte Mara, sich selbst doch noch dort liegen zu sehen, selig schlummernd. Aber nein, ihre Augen wurden trüb, verloren jegliches Detail und verdunkelten sich schließlich ganz.
Bald schon war nur noch ein schemenhafter Umriss an der Wand zu erkennen, als hätte etwas an ihr gelehnt und sie leicht beschmutzt. Und einige Momente später war auch davon nichts mehr zu sehen.
Einzig das Klopfen drang noch eine Weile aus der Wand.
Und im letzten Moment ihres Bewusstseins erkannte Mara auch endlich, was es war.
Die vielen Seelen, die das Haus bereits vor ihr verschlungen hatte.
Es war ihr Rufen und das Echo ihrer noch immer pulsierenden Herzen, das sich blechern und dumpf zwischen Leitungen, Mauerwerk und Tapete seinen Weg suchte.
Tok. Tok. Tok.