Gorleben soll leben

Text: Gipfelbasilisk
Bild: Pexels Suzy Hazelwood

»Ihr versteht mich einfach nicht!«, schrie Manuel und schlug die Tür hinter sich zu.
Was sollte er jetzt tun? So gestritten hatte er sich mit seinen Eltern noch nie. Wieso verstanden sie einfach nicht, dass das wichtig war. Er war nun schon ein Jahr Mitglied in seiner Ortsgruppe der Fridays-for-Future-Bewegung und seine Eltern nölten ihm täglich die Ohren zu, dass er vorsichtig sein sollte, lieber zu Hause bleiben solle. Vorsichtig … pah, das war er, aber ihnen lief die Zeit davon. Die Auswirkungen des Klimawandels waren doch schon längst spürbar und laut aktueller Erkenntnis würde das Klimaziel von 1,5 Grad viel früher verfehlt werden, als gedacht. Die Politik musste endlich handeln.
Er war lange nicht mehr bei seiner Oma, sie verstand ihn, sie hörte ihm zu.

»Gab es wieder Streit?«, sagte Gretchen, Manuels Großmutter, als sie ihm die Tür öffnete.
»Ja«, sagte er knapp, drängte sich an seiner Großmutter vorbei in die kleine Wohnung und warf sich nonchalant in den weichen Sessel, der vor dem großen Fernseher mit weißen Zierdeckchen stand. »Das heißt: Hallo Großmutter, wie war dein Tag, entschuldige, dass ich hier so reinplatze.«
»Du hast ja recht, entschuldige.«
Seine Großmutter lächelte aufmunternd und verschwand Richtung Küche.
Er zappte durch die Kanäle, nur, um Augenblicke später das Gerät auszuschalten. Inzwischen drang der Duft von Omas Kaffee aus der Küche. Er stand auf und stellte sich neben sie an die orangefarbene Kücheneinrichtung. »Sie hatten dich schon angerufen?«
»Natürlich haben sie das, schau mal, da auf dem Tresen steht ein Karton, den hab’ ich für dich herausgesucht.«
»Was ist drin?« »Setz dich ins Esszimmer und schau rein, das Gerät, das auf der Anrichte steht, wirst du brauchen!«
Manuel nahm den alten Karton, der mit einem braunen Paketband zugebunden war. Auf dem Kartondeckel klebten Prielblumen in verblassten Farben. Er schüttelte den Karton und hörte Papier rascheln, aber auch andere Gegenstände, die aneinanderstießen.
Er wollte gerade die Küche verlassen, als seine Großmutter ihm einen warmen Becher Kaffee in die andere Hand drückte und ihn ernst ansah. »Wenn deine Mutter dich fragt, wo du das herhast, sagst du, ich hab’ dich den Dachboden aufräumen lassen!«
Er nickte seiner Großmutter verschwörerisch zu.
Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Das hat dein Großvater auch immer gemacht, wenn wir getuschelt hatten.« Sie drehte sich weg und ging an den Kühlschrank. »Soll ich uns etwas kochen?«
Manuel dachte an die Geräusche, die sie machte, wenn sie kochte, an die Gerüche, die er so sehr liebte, die ihn immer beruhigten. »Gerne!«, er betrat das Esszimmer, stellte Kaffeebecher und Karton auf den Tisch und räumte vorsichtig Blumen und Häkeldecken beiseite. Er liebte das alte Holz, das schon so viel erlebt hatte. Die Einrichtung seiner Eltern stammte von Ikea und wurde in seinem Leben schon mehrfach ausgetauscht, weil ständig etwas kaputtging.
Er setzte sich auf einen der alten Stühle, dessen Sitze schon mehrfach neu bezogen, neu geleimt und repariert waren. Man sah ihnen ihr Alter an. Der Kartondeckel hüpfte ein Stück nach oben, als die Spannung der Schnur gelöst wurde. Neugierig schob er ihn beiseite und ein Schwall von Bildern fiel Manuel entgegen. Dazwischen einige Kassetten in verschiedenen Farben. Er zog eine mit der Aufschrift 1979 heraus und legte sie in den alten Kassettenrekorder seiner Großmutter. Eine tiefe Stimme begann melodisch zu einem rhythmischen Takt We don’t need no education zu singen.
»Oh Pink Floyd – Another Brick in the Wall, den Song hat deine Mutter auf und ab gehört«, sagte seine Großmutter und sah aus der Küche.
Manuel nahm einige Bilder auf. Seine Mutter mit gelber Regenjacke, jung, mit voluminöser Mähne, Strickschal im Gras sitzend. Gänseblümchen und Löwenzahn blühte vereinzelt in der Wiese, hinter ihr am Baum ein Mann im Parker, Zigarette im Mund, Klampfe in der Hand, Oberlippenbart. War das sein Vater? Er nahm das Bild und ging zu seiner Oma in die Küche. »Sind das meine Eltern?«
Seine Großmutter sah von einem Topf, in dem inzwischen Gemüse kochte, auf und lächelte. »Ja, das sind deine Eltern, oh Gott, ich bin so froh, dass dein Vater sich irgendwann diesen furchtbaren Magnumbart abgenommen hat.«
»Das Eis hatte früher n Bart?«
»Nein, das war eine Serie um einen Privatdetektiv, viele haben damals so einen Bart getragen wie der Hauptdarsteller.«
Manuel ging zurück ins Esszimmer. Mehr Bilder von seinen Eltern, alleine am Baggersee, in der Schule, mit Freunden. Doch dann wechselten die Motive. Immer mehr Menschen waren auf den Bildern zu sehen. Meist sah Manuel seine Mutter mit vielen anderen nur noch von hinten. Viele trugen Plakate. Gelbe Regenjacken, noch mehr Parker. Er besah sich das Bild genauer. Waren auf der anderen Seite Polizisten, die eine Kette bildeten, Schlagstöcke und Schilde in der Hand?
Er blätterte weiter durch die Bilder, besah sich die Rückseiten und fand einige beschriftete. Gorleben Demo. Gorleben? Etwas klingelte da im Kopf von Manuel. Dann Bilder von Wasserwerfern, seine Mutter einen Stein in der Hand, andere, die schon flogen. Ein Stapel zusammengebundener Bilder, ein Zettel mit der Aufschrift Gorlebentrack 31. März 1979. Er löste das Band. Seine Eltern auf einem Trecker. Selbes Outfit, Schilder in der Hand: Gorleben soll leben. Plutonium haut Omi um und alle anderen auch. Dahinter ein Straßenschild mit der Aufschrift Hannover. Immer mehr Bilder von Traktoren, verschiedenen Protestplakaten, Menschen, die gemeinsam demonstrierten. Die Musik wechselte. Eine Frauenstimme sang disharmonisch zu einem seltsamen Rhythmus. »Wer ist das, Oma?«
»Ach irgendeine dieser Punkbands, die deine Mutter damals so gerne gehört hat. Ich glaube, die hießen irgendwas mit Slits.«
Manuel gab die Band in den Browser seines Handys ein.
Wikipedia: The Slits (engl. Die Schlitze) waren eine britische Punkband der ersten Stunde. Die 1976 gegründete, feministische Rockband aus London kombinierte Punk mit Einflüssen aus Reggae und Weltmusik.
So was hatte seine Mutter echt gehört? Und dann die Demos, sie waren sich doch so ähnlich im Grunde. Wie ist seine Mutter zu einer Person geworden, die dem Sohn sagt: Er soll vorsichtig sein! Und ihn am liebsten nicht auf einer Demo sehen würde!
Er sah auf ein Bild, wo seine Eltern am Weißkreuzplatz an einem Findling standen. Das Mahnmal kannte Manuel sogar vom Klimablock auf der kämpferischen 1. Mai-Demo. Der große gelbe Findling mit der roten Sonne und seine Eltern waren dabei. Er recherchierte online. Die Demo begann sogar einige Tage vorher und es waren laut Wikipedia 350 Trecker und auf der Abschlusskundgebung etwa hunderttausend Teilnehmer*innen. Sie hatten damals gegen ein Endlager und Atomstrom im Allgemeinen demonstriert und was machte er heute? War das Ziel von Fridays for Future nicht auch auf eine Gefahr hinzuweisen und die Gesellschaft dazu zu bewegen, sich, um diese zu kümmern? Ein Teller Suppe mit Hörnchennudeln wurden neben die Bilder gestellt. Die Kassette spielte inzwischen ein Lied, das er kannte. Rhiannon von Fleetwood Mac. Er liebte dieses Lied, das vor einiger Zeit auf TikTok im Trend war. Sie waren sich mal sehr ähnlich gewesen. Er und seine Mutter. Manuel strahlte seine Oma an. »Danke, dass du mir das gezeigt hast. Darf ich das Bild mitnehmen?« Er hielt ihr das Foto von seinen Eltern neben dem Stein hin.
Sie nahm es in die Hand und lächelte. »Klar, die Bilder gehören ja deiner Mutter, ich denke, sie wird sich freuen, daran erinnert zu werden. Auch wenn es mit ihr damals keine leichte Zeit war.«
»Habt ihr damals auch gestritten?«
Seine Großmutter setzte sich, bedeutete Manuel zu essen, und erzählte.

Ende