Literarischer Spaziergang mit Hund

Text von mir

Beobachtung: Eine Frau geht mit einem Hund an der Leine durch die Stadt. Ihr Blick ist nach unten geneigt und sie starrt auf ihr Buch. Die Umgebung scheint sie nicht wirklich wahrzunehmen. Der Hund zieht sie in eine Richtung und sie folgt einfach. Vermutlich ist dieses Gassi gehen einstudiert. Sie wirkt so natürlich in der Art, wie sie es tut. Ihr Haar strohblond zu einem engen Zopf zusammen gebunden. Die Kleidung in gedeckten Erdtönen. Die Augen Eisgrau hinter einer kupferfarbenen Brille. Schuhe praktisch ohne Schnörkel. Eine Person, die in der Masse untergeht.

Literarischer Spaziergang mit Hund

Tamara schritt durch die Straßen Londons, ihr Blick auf das Buch in Ihrer Hand gerichtet, ihr Hund Bastian an ihrer Linken, ihr treuer Begleiter. Mit schlafwandlerischer Sicherheit lief sie wie ein Geist durch die Stadt und las die Zeilen, die ihr das Leben bedeuteten. Die Wörter des Werks fesselten sie, es war Dante Allighieris Göttliche Komödie.
Ihre Mutter verabscheute, dass sie als Mädchen so viel las und sie würde sich die Augen kaputt machen, wenn sie das so weiter täte. Zumindest sagte ihre Mutter das immer. Sie war altmodisch in vielerlei Dingen und tat als wäre ihre Familie etwas Besonderes. Dabei war ihr Vater nur Buchhändler. Er brachte ihr immer wieder die spannendsten Welten auf Seiten gefesselt von der Arbeit mit nach Hause und gab sie ihr zum Lesen. Wie sollte sie also dieser Versuchung widerstehen?
»Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.« Las Tamara leise.
»Haben sie etwas gesagt?«
Sie schaute kurz auf. Ein junger Mann, kecker Blick. Sie lächelte, richtete aber wieder den Blick auf ihr Buch und nachdem Bastian ihn anknurrte, verschwand er auch und sie lief weiter.
Den Straßen folgend in Richtung der kleinen Wohnung, in der sie und ihre Eltern wohnten. Es war ungezogen von ihr einfach, so ohne Anstandsdame durch London zu flanieren, aber die gesellschaftlichen Regeln interessierte sich Tamara nicht. Außerdem sie hatte doch ihren Hund. Ihren treuen Begleiter und er hielt kecke Jungs ja auf Abstand.
Ihr Geist wanderte vom Buch zum gestrigen Abend. Sie hatte ihrer Mutter eröffnet, dass sie gerne im Buchgeschäft ihres Vaters arbeiten wollte. Die folgende Standpauke hatte sich um junge Männer und eine nicht stattfindende Hochzeit gedreht. Aber heiraten wollte sie eh nicht. Diese jungen Mädchen in den Geschichten, die immer wieder in die Fänge eines Galanten gerieten und ihre vorherigen Träume aufgaben, waren nicht das, was sie sich wünschte. Nein sie wollte nie heiraten.
Sie bemerkte, dass sie die letzten Zeilen zwar gelesen, aber nicht erfasst hatte. Tamara ärgerte sich, grollte kurz auf und konzentrierte sich wieder auf das Buch.
»Durch mich geht’s ein zur Stadt der ew’gen Qualen,
Durch mich geht’s ein zum wehevollen Schlund,
Durch mich geht’s ein zu der Verdammniß Thalen.«
Das Höllentor, Dante auf der Suche nach seiner Beatrice. Im Grunde war es lustig, dass Tamara ausgerechnet dieses Buch jetzt las. Ein Galant auf der Reise durch die Hölle zu seiner Liebsten ins Paradies. Aber das Höllentor faszinierte sie. Die Vorstellung, durch so ein Tor in eine andere Welt einzutreten, war faszinierend. Sie seuftzte, las die letzten Zeilen des dritten Gesangs, klappte das Buch zu und schaute auf. Aber anstatt vor der Tür zur Wohnung zu stehen, stand sie mitten in einer Menge Menschen. Fest an sie gepresst an ihrer Linken war ihr Hund und sah scheu zu ihr hoch.
»Wo hast du mich hingeführt mein Kleiner?«
Ein Schnaufen und der treue Blick aus zwei schwarzen Augen waren ihre Antwort. Was hatte sie erwartet?
Sie schaute sich um. Kopf um Kopf, Schulter an Schulter standen die Menschen da und sahen nach vorne. Was war hier los, hatte sie etwas verpasst? Sie wollte umkehren und den Weg zurück suchen, aber auch hinter ihr waren Menschen dicht an dicht. So viele auf einen Haufen hatte Tamara noch nie gesehen. Was war nur los?
Bastian musste gemerkt haben, dass sie unruhig wurde, denn er setzte sich auf ihre Schuhe und schmiegte seinen Kopf an sie.
Mit ihrer linken, kraulte sie ihm hinter dem Ohr.
»Wir werden hier wohl eine Weile nicht fortkommen mein Kleiner.«
Sie schlug das Buch auf, was auch immer die alle sehen wollten, es interessierte sie nicht. Wenn sie schon warten musste, konnte sie dabei euch lesen. So stand sie da, von jedermann ignoriert und las. Hier und da drangen geflüsterte Worte an ihr Ohr, die sie nicht verstand. Schreie. Fröhliche oder Bedrohliche?
Sie fühlte, wie hinter ihr die Menschen nach vorne drückten. Das Buch fiel, ihr Hund knurrte, sie stolperte und fiel, eine Hand, sie griff zu und stand wieder. Weiteres knurren, dann ein Bellen, sie sah, wie Menschen auswichen, Platz machten, und dann war ihr Hund wieder an ihrer Seite. Sie klopfte sich den Staub von ihrem blauen Kleid und suchte nach dem Buch. Aber es war weg. Die Menge schritt an ihr vorbei und lichtete sich. Da lag es. Von Füßen getreten, der einband gerissen, beschmutzt und feucht.
Ein Schluchzen in ihrer Kehle. Der junge Mann von vorhin stand neben ihr. Trat auf das Buch zu und lächelte wieder so keck.
»Danke, dass sie mir aufgeholfen haben.«
»Gerne, du musst besser aufpassen, wenn du liest. Du vergisst ja völlig, was um dich herum geschieht!«
Tamara spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. So viel Aufmerksamkeit war ihr unangenehm.
Der junge Mann reichte ihr das Buch, griff an seinen Hut zum Abschied und verschwand in einer Seitengasse.
Neugierig schritt sie hinterher, aber der junge Mann war verschwunden.
»Was soll ich jetzt nur machen? Wenn Vater sieht, in was für einem Zustand dieses Buch ist, wird es sicher ärger geben.«
Bastian schnüffelte und trat in die Gasse und blieb dann schwanzwedelnd an einer Wand stehen.
»Ist da was mein kleiner?« Tamara trat in die Gasse und in der Tat, von der Seite sah man es nicht, aber da war ein schmaler Durchgang. Neugierig trat sie hindurch. Es war frisch in dieser Gasse, in die sich kaum ein Lichtstrahl verirrte. Ein weiterer Durchgang, dann ein Bogen, der sich über die schmale Gasse zog und ein Tor bildete.
Tamara lächelte und flüsterte: »Ihr, die ihr eingeht, lasset alle Hoffnung fahren!« Sie lachte und trat durch das Portal auf eine grüne Wiese. So einen Ort hatte sie mitten in London nicht erwartet. Der junge Mann lag unter einem Baum in der Sonne und las in einem Buch. In einiger Entfernung konnte sie eine Stadt sehen, die ihr gänzlich unbekannt war und als sie sich umdrehte, war das Tor, durch das sie gerade trat, verschwunden.

Alice sah von den Papieren auf, die sie eng beschrieben hatte. Ihr Nacken schmerzte. »So bist du also in die Anderswelt gelangt?«
Tamara nickte und trank einen Schluck Tee.
»Und du bist seit dem nie mehr in die Menschenwelt zurückgekehrt?«
»Einmal nachdem ich meinen Buchladen hier eröffnet habe.« Tamara wischte mit dem Finger durch die Luft und ein Bild schwebte aus einem der vielen Bücherregale herab und landete vor Alice auf dem Tisch. Es zeigte einen alten Mann vor einem Buchgeschäft. »Ich wollte ihn und seinen Laden, der mich schließlich hier hergeführt hatte, und seine Bücher noch einmal sehen. Es war seltsam, nachdem ich hier her kam, hatte ich kein Heimweh. Im Gegenteil hier herzukommen fühlte sich für mich, wie nach Hause kommen an. Hier war ich frei zu tun und zu lassen, was ich will. Ihn zu sehen tat weh, er erkannte mich nicht einmal. Ich hatte mich hier sehr schnell verändert. Aber seit dem, nein kein einziges Mal.«