Nimmermehr
Text von mir Cover von MostlyPremade
CN: Tod, Verwirrtheitszustände, sterbendes Tier, Angst erzeugende Bilder
Leonora saß in ihrer kleinen Wohnung in Berlin. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Die Nacht war schon vor Stunden über die Stadt hereingebrochen. Sie schlug das Buch zu, das sie gerade noch gelesen hatte. Ihr war nicht mehr danach. In derselben Sekunde, in der sie es zugeschlagen hatte, entfleuchen ihr auch schon die Erinnerungen an das Gelesene. Nur noch schlafen, sie musste ins Bett. Sie schritt in ihr kleines Bad, wusch sich und zog ihren flauschigen Plüschbärenpyjama an. Etwas klackte ans Fenster im Wohnzimmer, musste wohl der alte Baum sein, der vor dem Fenster stand. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war zu. Hatte sie die Tür nicht offen stehen lassen, als sie das letzte Mal in ihrer Wohnung war?
Wieso dachte sie so seltsam darüber, sie war doch die ganze Woche schon in der Wohnung. Sie hatte Urlaub. Wollte einfach nur die Freizeit auf ihrer Couch verbringen. Ihre Hand bewegte sich auf die Türklinke zu. Der metallene Griff war eiskalt. Ihr fröstelte.
Ein lauter Krach, ein Flattern. Rauschen des Windes. Das Wohnzimmer.
Sie trat in ihrem Pyjama in den Raum und entdeckte sofort den Ursprung des Lärms. Ein Rabe war gegen das Fenster geflogen, hatte es durchstoßen und lag nun kläglich flatternd auf den Boden. Das arme Tier.
Leonora schritt schnell zu ihm und hob ihn auf. Das Flattern erstarb und das Tier schloss seine Augen, es lag noch warm in ihren Händen. Sie spürte den letzten Schlag seines Herzens.
„Keine Angst, ich kümmere mich um dich.“ Einem inneren Impuls folgend schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf das kleine Tier in ihren Händen. Aber es war nicht wie sonst, wenn sie Tote zum Leben erweckte. Ihre Magie reagierte nicht. Was war hier los? Sie besah sich das Tier in ihren Händen.
Tränen liefen ihr über die Wangen „Komm zurück“, schrie sie.
Traurig, für das kleine Wesen nichts tun zu können, ging sie in die Küche und zog einen Karton aus dem Papiermüll. So einfach wollte sie dieses schöne Tier aber nicht in die Kiste legen. Der Stoff, in dem ihr Freund ihr Geschenk eingewickelt hatte. Sie ging an den Wohnzimmerschrank und holte einen kleinen violetten Stoffrest heraus. Das kleine tote Lebewesen war schnell darin eingewickelt. Sie wusch sich die Hände. Begraben würde sie den kleinen Raben am Morgen. Jetzt erst einmal schlafen. Sie war sooo unendlich müde. Ihre Hand auf der eiskalten Klinke zum Schlafzimmer. Sie war im Begriff, die Klinke runter zu drücken, als ein Krächzen aus der Küche erklang. War das kleine Wesen doch noch nicht gestorben?
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und sah in die Schachtel. Der Stoff war aufgefaltet und ein paar schwarze Federn lagen einsam und verlassen in der Kiste.
„Nimmermehr“, krächzte es aus dem obersten Fach ihres Bücherregals.
Der kleine Rabe saß dort oben, ziemlich passend auf Edgar Ellen Poes ‘Der Rabe’.
„Und der Rabe blieb und war auf dem Raben immer da. Sprach das einz’ge Wort noch aus mit der ganzen Seele Macht:“, zitierte Leonora scherzhaft.
Der Rabe antwortete krächzend wie im Buche: „Nimmermehr!“ Der Kopf des kleinen Tieres beugte sich zu ihr herab und fokussierte sie mit dem Auge.
„Nimmermehr was? Ich bin weder der Mann aus der Geschichte noch Lenor, die er beweint, also wenn du schon sprichst, so spreche frei!“
Der Rabe richtete seinen Kopf wieder auf und sprach: „Du kehrst nimmermehr zurück, wenn du die Tür zum Schlafzimmer durchschreitest. Dann wars das!“
Leonora stockte, was sprach der Rabe da?
„Wenn du mir nicht glaubst, geh und sieh nach. Aber gehst du hindurch, wars das!”
Ein sprechender Rabe, wer ihr den wohl gesandt hatte? Sie trat zur Schlafzimmertür und fühlte sich schlagartig wieder so entsetzlich müde. Sie wollte nur noch schlafen. Vergessen war der Rabe. Vergessen war der Tag. Sie berührte die eiskalte Klinke und drückte sie herab. Die Tür schwang auf und ihr Schlafzimmer kam zum Vorschein. Nichts Ungewöhnliches, nur ihr Schlafzimmer. Müde hob Leonora ihren Fuß an und wollte einen Schritt nach vorne wagen, als aus dem Wohnzimmer ein gekrächztes: „Nimmermehr!“, erklang.
Ach ja, der Rabe. Sie sah in das Zimmer. Dort war eine weite Ebene. Grauer Sand, kahle schwarze Bäume und ein Licht in ewiger Entfernung, das sie lockte. „Nimmermehr“, erklang es lauter und eindringlicher.
Die Hand am Türgriff. Sie schwankte. Das Locken, das Licht. Sie musste ihm entgegenschreiten.
Ein Flattern. Krallen, die sich in ihre Schulter gruben. „Nimmermehr!“
Sie trat einen Schritt zurück, die Tür fiel zu, das Locken ließ nach.
„Gut so und jetzt sieh dir die Tür an!“, krächzte der Rabe in ihr Ohr.
Sie spürte, wie eine Woge der Magie warm über sie lief. Sie sah, wie die einfache Holztür vor ihren Augen zerfiel und Platz machte für eine Tür aus schwarzem Stein, die von Knochen geziert wurde. Die kalten leeren Augen eines Totenschädels starrten ihr entgegen. Der Schädel begann sich zu regen.
„Alter Freund, warum entreißt du mir mit deinen Schreien dieses Kind?“
Leonora wich von der Tür zurück in ihr Wohnzimmer. Der Schädel löste sich von der Tür und schwebte auf sie zu. Als er den Stein verlassen hatte, bildete sich eine schwarze Kutte um den Kopf und eine unsichtbare Masse füllte das Kleidungsstück aus, sodass nun der wahrhaftige Tod aus den Märchen vor ihr stand.
„Es ist nicht ihre Zeit”, sprach der Rabe. “Sie darf nicht mit dir gehen, sonst kommt dieses Kind nimmermehr zurück.“
„Sie stirbt! Ihr Leib vergeht in diesen Sekunden!“
„Ich bin auch noch da!“, sprach Leonora laut. „Was sprecht ihr von sterben? Ich stehe doch neben euch!“ Der Rabe schmiegte seinen Kopf warm an ihren Hals. „Was hast du heute Morgen getan?“ Leonora erinnerte sich nicht.
„Und letzte Woche?“
„Schweig still Rabe, sie ist schon mehr auf meiner Seite, denn auf deiner!“, sagte der Knochenmann.
Leonoras Gedanken rasten. Sie fand keine Antworten auf die Fragen des Rabens. Sie war nur so unendlich müde und wollte schlafen. Sie musste in ihr Bett. Ihre Beine setzten sich in Bewegung des Schlafzimmers.
„Siehst du, sie steht im Bann meiner Welt. Die Toten kommen immer zu uns Fährmännern, finden immer einen Weg. Sie wollen ruhen!“
„NIMMERMEHR!“ Der Rabe hackte Leonora mit dem Schnabel in die Schulter.
Sie schrie auf vor Schmerz. Nein, sie durfte nicht schlafen. Sie sah auf, sah wieder den Tod vor sich stehen.
„Komm mit mir mein Kind, lass all das hinter dir und folge mir. Willst du nicht schlafen?“
Jetzt wirkte das unmögliche Wesen vor ihr wie ein alter lieber Gefährte und sie griff nach seiner Hand. Sie sah, wie sich eine Knochenhand bildete und sich in ihre legte.
„NIMMERMEHR.“ Wieder der Schmerz in der Schulter. Aber Leonora nahm ihn nur kurz wahr, dann verschwand er.
„Komm mit mir mein Kind.“
Leonora spürte, wie ihre Schulter leichter wurde, hörte wie etwas sich flatternd entfernte. Was das wohl war?
„So ists gut, verschwinde alter Freund, du kämpfst hier auf verlorenem Posten!“
Sie schritt an seiner Hand auf die Tür zu.
„Geh hindurch!“
Leonora ergriff die eiskalte Türklinke. Sie war so müde, aber gleich würde sie ruhen. Sie drückte die Klinke herunter und die Tür schwang auf.
„Du, hier?“, sprach der Fährmann.
„Guten Abend alter Freund, hat dich mein Tierchen nicht erreicht? Wir brauchen sie noch, sie gehört nicht in deine Welt.“
„Ich hatte nicht gewusst, dass er zu dir gehört.“
„Jetzt weißt du es ja!“
Leonora sah auf. Vor ihr stand eine Frau in Kleidern in den Farben des Herbstes. Das Gesicht verdeckt durch einen dichten Schleier.
„Mein Kind, lass seine Hand los.“
Leonora gehorchte.
Die Frau trat durch die Tür ins Zimmer und nahm Leonoras Hand.
Sie hörte, wie die Tür zuschlug. Der Tod war fort.
„Wer bist du?“
„Du kennst mich, doch jetzt ist keine Zeit für lange Reden! Ich werde dich zurückbringen!“
Die Frau wischte mit ihrer Hand durch die Luft und Leonora sah in eine andere Welt. Sie sah;
Die Frau gab ihr einen Stoß und Leonora fiel.
Husten, sie spuckte Wasser. Ihr Körper schmerzte.
„Leonora mein Kind, da bist du ja wieder!“ Pastelllila Haare und Flügel.
„Was ist los?“
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Angriff, der Kampf, sie wurde verbrannt. Aber warum lebte sie noch?
„Margot was ist passiert?“ Es kostete sie Kraft zu sprechen.
„Beruhige dich meine Liebe, es ist alles in Ordnung, du bist wieder da und nur das zählt.“