Rabenschwester

Text von: StefShepardRox
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Eisiger Wind riss ihr die Haare aus dem vormals sorgfältig hochgesteckten Haar. Eigentlich war sie am Morgen aufgebrochen, um rasch vom Markt frische Eier und Honig zu holen. Nun war es schon fast dunkel und sie kämpfte sich durch den hohen Schnee nach Hause. Das Gespräch, das sie zufällig mitangehört hatte, lag ihr wie ein Mühlstein im Magen.
Gala hatte sich bunte Glasperlen angesehen, als der Wind Gesprächsfetzen von zwei tuschelnden Frauen am Nachbarstand herübertrug:
„Macht nur ärger. Schon seit sie auf der Welt ist!“
„Warum?“
„…schwächliches Neugeborenes. Dachten, sie würde die Nacht nicht überstehen. Als gute Hebamme hab ich die Eltern darauf hingewiesen, dass sie besser eine Nottaufe veranlassen sollen. Der Vater hat die sieben Söhne zum Brunnen geschickt, um Wasser zu holen, doch die Nichtsnutze sind ewig nicht aufgetaucht. Haben irgendwas davon gestammelt, dass ihnen der Krug in den Brunnen gefallen sei. Der Vater war so wütend, dass er sie verflucht hat. Gebrüllt hat er, er wollte seine nichtsnutzigen Söhne wären Raben, dann müsse er sie wenigstens nicht durchfüttern.“
„Da wär ich auch wütend gewesen!“
„Das beste kommt erst! Vor meinen Augen, ich schwöre beim Herrn, haben sich die Bengel in Raben verwandelt.!“
„Nein!“
„Doch! Das Mädchen hat überlebt, ein Glück, aber die Rabenbrüder sind fortgeflogen. Wer soll jetzt die Mühle übernehmen?“
„Ein hartes Los, nur eine Tochter…“

Gala schnaubte bei der Erinnerung. Erst hatte sie das für das giftige Gewäsch einer missgünstigen Vettel gehalten, doch dann blitzten nach und nach Bilder in ihrer Erinnerung auf. Von getragenen Lederschuhen, die der Vater vom Speicher holte, wann immer ihre Füße als Kind gewachsen waren. Von hartem Brot, dass ihre Mutter sorgfältig zerhackte, um damit die Vögel zu füttern und ihrem wehmütigen Blick, wenn nur Spatzen kamen, um sie zu picken …

Den ganzen Tag war sie ziellos umher gewandert, hatte sich dieser Gedankenspirale aus Erinnerungen, Zweifeln und Schuldgefühlen hingegeben. Bis sie den Entschluss fasste, ihre Eltern zur Rede zu stellen.
Energisch stapfte sie weiter durch den knirschenden Schnee.

Vor dem Haus hinter dem die Mühle wie ein bedrohlich knurrender, schwarzer Troll, vor dem Horizont aufragte, liefen ihre Eltern umher, je eine Laterne in der Hand und riefen verzweifelt nach ihr. Gala trat aus dem Schatten des Waldrandes auf den Weg, der in Mondlicht getaucht, zum Haus führte.
„Ich bin hier!“
„Gala! Den Göttern sei dank!“
„Hatten wir nicht nur einen, sehr rachsüchtigen?“
„Was redest du da?“
„Gott. Ich hab gehört, er hat meine Brüder verflucht.“
Vater und Mutter, die auf sie zugeeilt waren, blieben wie angewurzelt stehen.
„Was… redest du denn da Kind?“, stammelte die Mutter.
Gala hob die rechte Augenbraue und schwieg.
„Das…,“ der Vater seufzte, „Lass uns drinnen reden.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus. Dicht gefolgt von Frau und Tochter.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Worte des Geständnisses aus dem väterlichen Mund tröpfelten. Gala stand mit verschränkten Armen neben dem Esstisch, an dem ihre Eltern saßen und besorgt die Hände rangen. Unter dem wütenden Blick seiner Tochter brach bald schon der Damm und Tränen und Worte strömten gleichsam aus dem Vater heraus. Was die Hebamme geschwätzt hatte, war wahr.

Gala lag nachts wach. Wann immer ihr die müden Lider zufielen, schreckte sie vom Rabengeschrei ihrer Träume, sogleich wieder hoch.
Im Morgengrauen packte sie ihre wenigen Sachen. Eine robuste Leinenhose und Hemd, Gugel und Beutel. Auch das Klappmesser, von dem sie nun wusste, dass es ihrem ältesten Bruder gehört hatte, fand den Weg in ihre Tasche sowie ein Kanten Brot und ein Wasserschlauch. Unter Abschiedstränen steckte ihr die Mutter noch den Ring zu, der Großmutter gehört hatte und bat, Gala möge die Söhne nach Hause bringen.

Sie reiste weiter, als sie je in ihrem Leben von zu Hause fort gewesen war. Weiter, als des Königs Lande reichten. Nährte sich von Beeren und Äpfeln, half bei der Ernte für ein Mahl und einen Platz im Stroh. Der Winter kam, es gab kaum noch Arbeit, die sie auf der Durchreise annehmen konnte. Ihre Reise hatte sie an den Fuß einer gewaltigen Bergkette geführt. Niemand hatte ihr Auskunft über ihre Rabenbrüder geben können. Eine blinde, alte Frau riet ihr, doch die Gestirne, um Rat zu fragen, und steckte ihr zwei Äpfel von ihrem Marktstand zu. Gala saß am Rande des Dorfbrunnens und knabberte nachdenklich an einem davon. Ihr Blick hing gedankenverloren an dem letzten Rot der untergehenden Sonne, die hinter dem Berg verschwunden war. Die silberne Mondsichel wanderte über den Bergkamm, die Sterne funkelten und Gala dachte nach.
Am nächsten Morgen versetzte sie den großmütterlichen Ring. Es ging um die Familie. Ihre Oma hätte das verstanden. Um das Geld erstand sie Seil und Pickel, Steigeisen, Ringnägel, Fäustel, Enterhaken und Proviant. Der Händler riet ihr ab, um diese Jahreszeit den schneebedeckten Berg hochzusteigen. Sie dankte ihm für den Rat und verließ den Laden.

Gala wanderte den Berg hoch, ließ die Baumgrenze hinter sich und folgte einem schmalen Ziegenpfad weiter nach oben. Als sie nackten Fels erreichte, sank ihr fast das Herz, doch da rief sie sich einen Satz ins Gedächtnis, den ihr ein Pfarrer, dem sie in einem Wirtshaus auf dem Weg ihr Leid geklagt hatte, dereinst lallend zuraunte:
„Per aspera ad astra“ -über raue Pfade gelangt man zu den Sternen.
Und genau da wollte sie hin.
Sie zurrte die Steigeisen fest, hing Fäustel, Pickel und den Beutel mit den Ringnägeln an ihren Gürtel und begann den Aufstieg. Mehrmals drohte sie abzurutschen. Sie verfluchte sich selbst für ihren halsbrecherischen Wagemut und riss sich wieder am Riemen. Sie musste ihre Brüder finden. Die Gestirne um Hilfe bitte, und so kletterte sie weiter.
Sie würde es nicht bis oben schaffen. Sie war doch nur ein Mädchen. Ein Mädchen… gerade deshalb würde sie es schaffen. Musste sie es schaffen. So wie die Frauen immer alles schafften, ertrugen und erduldeten. Während die Männer ihr Leid in der Schenke beklagten, arbeiteten die Frauen Generation um Generation weiter. Unnachgiebig, unbeugsam, ungedankt.
Die Finger beinahe steif gefroren, zog sie sich mit letzter Kraft die nächste Felskante hoch, biss die Zähne zusammen, tastete nach einem Nagel … doch der Beutel war leer. Sie griff sich den Pickel. Schlug ihn oben in eine eisige Felsspalte und zog sich hoch. Weiter. Immer weiter. Sie würde nicht aufgeben.
Wimmernd hievte sich auf eine eisige Kante und schob sich in den Schnee, schwang den Pickel nach oben … er fiel ins Leere. Die Felswand vor ihr war verschwunden, stattdessen lag ein weißes Meer vor ihr, hell erleuchtet von Mond und Sternen, die still und heimlich die Sonne abgelöst hatten.
Sie rollte sich schnaufend auf den Rücken. Nur kurz durchschnaufen. Sie war so erschöpft. Auf dem Weg nach oben, hatte sie die Sonne um Hilfe gebeten. Die hatte jedoch keine Zeit gehabt, sich ihrer Probleme anzunehmen. Sie sei ja die Mutter aller, müsse schnell weiter, die anderen Kinder wärmen. Obschon sie sich eine andere Antwort gewünscht hatte, sah sie doch ein, dass die Sonne andere Sorgen hatte.
Gala sah hoch zum Mond, dessen stolze Sichel über ihr schwebte. Flehend wisperte sie: „Oh Mond, der du uns die Nacht erhellst. Bitte hilf mir, ich suche meine Rabenbrüder.“
„Was kümmern mich Menschenbälger. Dafür seid ihr Menschenfrauen da. Ich bin dafür zuständig, stark zu leuchten und die Nacht zu erhellen. Also … behellige mich nicht länger, Mädchen. Muahahaha.“ Er tauchte hinter eine Wolke ab und ließ sie im Schnee zurück.
Es war so kalt und Gala so müde. Heiße Tränen rannen ihr seitlich die Wangen hinab und füllten ihre kalten Ohren. Den Blick zu den Sternen gerichtet, schloss sie die Augen. Nur für einen Moment…

„Pssst. Wach auf Gala Rabenschwester.“
Es war wie ein leises, helles Glockenklingen in ihren Ohren, das von innen kam und ihren Gehörgang kitzelte.
Mühsam schlug sie die Augen auf.
„Wer bist du?“, ihre Stimme ein heiseres flüstern.
„Die Sterne mein Kind. Du hast uns gesucht. Wir sind hier. Wir sehen… Wir hören … wir wissen.“ Die Sterne über ihr blinkten ihr aufmunternd zu. „Steh auf Gala Rabenschwester. Steh auf. Wir weisen dir den Weg zu deinen Brüdern! Nimm diesen Schlüssel, er schließt das Tor zum Turm aus Eis. Dort sollst du sie finden. Beeil dich. Es ist kalt.“
Ein beinerner Schlüssel schwebte herab, legte sich vertrauensvoll in ihre klamme Hand. Gala rappelte sich auf. Schnee rieselte von ihren steif gefrorenen Kleidern. Sie löste das Seil vom Gürtel und sah sich um. Da sauste eine Sternschnuppe vom Himmel, zog einen Schweif aus funkelnden Lichtern hinter sich her, die sich in den Schnee setzten und ihr den Weg wiesen. Über den Bergkamm ging es bis zu dessen Ende, wo die Sternschnuppe gegen den prophezeiten Turm prallte, zerbarst und ihn in Funkenriesel tauchte.
Gala fasste neuen Mut. Sie ballte die Hand mit dem Schlüssel zur Faust und stolperte los. Die Sternensplitter verhärteten den Schnee, so dass sie darauf laufen konnte, anstatt einzusinken. Das Ziel vor Augen lief sie weiter. Der Turm erhob sich vor ihr. Ehrerbietend, gewaltig. Ganz aus Eis, wie von einem Glasbläser geformt. Glitzernd, geheimnisvoll, kalt.
Den Blick auf das verheißungsvolle Portal gerichtet, sah sie die Stufe nicht, die von einer Schneewehe verborgen, vor ihr lag. Sie stolperte, fiel, riss die Arme nach vorn, um sich zu fangen … der Schlüssel segelte davon über den Abgrund ins Nichts.

Gala fing sich ab und starrte ihm ungläubig hinterher. Unglaube wandelte sich zu Angst und schließlich zu Wut. Sie trommelte mit den Fäusten auf die eisige Stufe ein.
„Nein! Nein, nein, nein! So knapp vor dem Ziel! NEIN! Nicht mit mir!“
Sie stemmte sich hoch und trat an die Pforte. Nachdenklich betrachtete sie das Schloss. Ihr Blick wanderte zu ihrer Handfläche, wo sie zuvor den Schlüssel so fest gepackt hatte, dass dieser blutige Abdrücke in ihrer zerschundenen Handfläche hinterlassen hatte. Sie holte das Klappmesser aus ihrer Tasche und begann den hölzernen Griff ihres Pickels zurecht zu schnitzen, bis Form und Länge den Abdrücken entsprachen. Zitternd steckte sie den behelfsmäßigen Schlüssel ins Schloss.
Nichts geschah. Sie bekam den improvisierten Dietrich nicht ganz rein. Ein paar Justierungen und Feinarbeiten am hinteren Schlüsselteil und nun passte er. Sie drehte den Pickel. Es klickte und das Tor schwang geräuschlos auf.
Gala trat ins Innere. Der Turm war möbliert und überraschend warm. Ein Zwerg begrüßte sie, mit dichtem, roten Bart und Hornbrille.
„Willkommen Fräulein. Was ist euer begehr?“
„Ich komme, meine Brüder zu finden. Ein Fluch hat sie in Raben verwandelt. Habt ihr sie gesehen?“
Der Zwerg kräuselte die Nase. „Natürlich kenne ich die Herren Raben. Sie wohnen bei mir. Bezahlen mit kleinen Dingen die sie von überall zusammentragen.“
„Oh ich bitte euch, guter Mann, lasst mich zu ihnen.“
„Gewiss, die Herren sind aber gerade … ausgeflogen. Mach es dir doch solange oben gemütlich. In ihren Räumlichkeiten ist es warm und der Tisch ist auch gedeckt. Und verbinde dir die Hände!“
„Besten Dank Meister Zwerg,“ sprach Gala müde und schleppte sich die Treppe hoch, in die Gemächer ihrer Brüder. Dort fand sie den Tisch reichlich gedeckt mit sieben Tellern und sieben Bechern.
Ausgehungert wie sie war, stibitzte sie von jedem Tellerchen einen Bissen. Sie wollte niemandem zuviel wegessen und trinken, am letzten Gedeck angekommen, war sie jedoch immernoch so hungrig, dass es sie überkam und sie Teller und Becher vollständig leerte. Es war ihr peinlich und so legte sie als Entschädigung das Klappmesser auf den Platz. Endlich satt, legte sie sich in der Stube nebenan vor den Kamin und schlief ein.

Sie wurde von heftigem Flügelschlag und Gekrächze geweckt. Die Raben waren zurück. Gala schlich zur Tür und lauschte.
„Karah! Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“
„Und weeer hat aus meinem Becherchen getrunken?“
„Eeeeindringling. Eeeeeeindringling!“
„Miiir hat er alles weggefressen, Karah!“
„Findet iiihn. Findet iiiiiihn!“
„Waaartet! Seht. Das ist mein altes Messer! Kann es sein, karah?“
„Vater?“
„Mutter?“
„Karah! Nein. Sie hat einen Appetit wie wir. Muss unser Schwesterchen sein!“
„Oh wär sies nur, Karah! Dann wären wir erlöst!“
Gala schob die Tür auf und trat ein. Sieben Schnäbel und vierzehn schwarze Knopfaugen richteten sich überrascht auf sie.
„Ich bins. Gala. Eure Schwester. Endlich hab ich euch gefunden liebste Brüder! Kommt heim zu uns!“
„Karah! Karah!“
Aufgeregtes Flügelschlagen wehte schwarze Federn durch den Raum. Das Federkleid verschwand, Schnäbel wurden zu Mündern und Vogelfüße wurden rosig und bekamen Zehen.
„Tapfere Schwester, lass uns nach Hause gehen!“, sprach der älteste Bruder und herzte sie. „Das Messer behalte du. Zum Dank für unsere Rettung!“

Im nächsten Frühling kehrten sie heim ins Dorf. Gala suchte die alte Hebamme auf und lächelte sie an.
„Besten Dank, dass ihr mir unwissentlich von meinen Brüdern berichtet habt. Die Mühle ist gerettet. Fortan werde ich sie leiten und meine Brüder mahlen das Korn.“
Gala ließ die verdutzte Frau stehen und ging nach Hause, gefolgt von ihrer Bruderschar.
Karah! Karah!