Sepia rot

Text: Chaotisch_aber_Liebenswert
Bild: Pexels Suzy Hazelwood

Müde schlüpft Ellen aus ihrem nachtblauen Parker und sinkt erschöpft auf dem Küchenstuhl hernieder.

Umringt von Umzugskartons und blauen Ikea-Taschen, ließ sie ihren Kopf zwischen ihren Armen auf die Tischplatte sinken. Sie atmet einmal tief durch, Kaffee! Sie brauchte dringend einen Kaffee! Ellen stellte einfach den Wasserhahn der Spüle auf, so heiß wie geht, schnappte sich den Becher von ihrem Diät-Shake und ließ 2 Esslöffel Löskaffee hineinplumpsen. Viel hilft viel! Als das Wasser dampfte, stellte sie den präparierten Becher darunter und kippte, kurz nach der 700ml Linie, noch großzügig fettarme Milch hinzu. Ein Plastikstrohhalm rundete das Arrangement ab. Kurz vor der Einführung dieser ekelhaften Pappdinger hatte sie noch so 10.000 Stück, oder 2 Ikea-Tüten voll, bei Tedi erstanden.

Nun trat sie hinaus auf ihren 1,5 qm großen Balkon und nestelte in ihrer Hosentasche nach den letzten Kippen ihrer letzten Kippenschachtel. Seufzend zündete sie sich eine an. Der wievielte Versuch war es doch gleich aufzuhören? Na ja, in der neuen Wohnung ab morgen wird alles anders. Wie wahr. Keine vertrauten Gerüche mehr, die sie an ihre Großmutter erinnern würden, keine knarrenden Dielen, zur Wohnungstür der Einliegerwohnung und durchgehend im ganzen Flur bis hin zum in die Jahre gekommenen Hofverwalter, der sich immer mal wieder, nach dem 4. oder 5. Herrengedeck (Schnaps und Bier) in der Pinte um die Ecke, in der Tür irrte. 

Ob die neuen Pächter ihn übernehmen würden? Abgesprochen war es zwar, aber sie selbst hätte ja auch Wohnrecht auf Lebenszeit. Er kennt sich jedoch am besten mit den Hühnern und all den altertümlichen Gerätschaften bei Hofe aus.

„Scheiße!“, entfuhr es ihr, als Ellen, vollkommen in ihren Gedanken versunken, das Abaschen vergaß. Jetzt pustete sie hektisch die Asche vom Karton, der vor ihr stand und den sie heute bei der Testamentsverlesung bekommen und mit auf den Balkon genommen hatte.

Morgen würde sie umziehen. Der Hof war verkauft und morgen würden zeitgleich mit dem von ihr beauftragten kleine Umzugsunternehmen auch ein Entrümpelungsunternehmen kommen und jede ihrer Erinnerungen und das Leben ihrer Großmutter zur Gänze zur Nichte machen. Und alles, was ihr blieb, waren der alte Plattenspieler, ein paar Platten von früher aus ihrer Kindheit wie Hanni und Nanni, die Fraggles oder Brüder Grimms Märchen. Allerdings liebe sie Vinyl und Ellen war so entzückt, dass ihre Lieblingsbands seit ein paar Jahren ihre Alben nicht dem Zahn der Zeit geschuldet, nur mich digital oder vereinzelt, schon fast Retro, als CD veröffentlichten, sondern oftmals auch als echte Platte. Zwei Platten ihrer Großmutter konnte sie, vor den ganzen gierigen Verwandten mitgehen lassen. „Märsche im Frühling“ und „an der Nordseeküste“ von Klaus und Klaus, na ja der Erinnerung halber.

Ellen drückte ihre Kippe aus, wischte sich ihre Hände an ihrer bis dato noch sauberen Hose ab, und schob den Deckel des Kartons zur Seite. Zum Vorschein kamen 2 Platten ihrer Großmutter, Nico Haaks „Schmidtchen Schleicher“ und natürlich „Fröhliche Märsche für jede Gelegenheit“. Na, was das wohl für fröhliche Gelegenheiten sein mögen, Ellen grinste in sich hinein und erblickte unter den Platten das ihr bekannte alte Fotoalbum. Vorsichtig schlug sie es auf und der Geruch nach altem Muff und 4711, der Duft ihrer Großmutter, strömten ihr entgegen und umwanderten Ellen förmlich.

Die Bilder waren alt, in Sepiatönen gehalten und mit geriffeltem Rand. Ellen erinnerte sich daran, wie sie sich in das kleine Zimmer des Hauses zurückgezogen hatte. Dort standen das Telefon mit der Drehscheibe, der Esstisch für besondere Gelegenheiten oder ein Schrank mit Geschirr oder auch diesem Fotoalbum. Oft hatte sie sich die Bilder angeschaut und sie kannte jedes einzelne von ihnen. Ellen selbst trug zu der Zeit, sie grinste in sich abermals hinein, schreckliche neonfarbene Leggings und hörte zu jeder Gelegenheit Musik und Geschichten auf ihrem Walkman. Kassetten … es fühlt sich an, als würde sie gerade eine Zeitreise machen und sie sah die beiden abgewetzten Bleistifte förmlich vor sich liegen, die man brauchte, wenn sich mal wieder Bandsalat im Inneren des Gerätes befand und man zum x-ten Mal alles zu retten versuchte. 

Der Plattenspieler stand in der guten Stube, genauso wie der Fernseher, zu dem man noch hingehen musste, um eine Taste einzudrücken, um einen der 9 Sender auswählen zu können. Heute undenkbar. 

Eigentlich wohnte Ellen über einem Retro-Museum, welches es ab morgen nicht mehr geben würde. Eine Träne kullerte ihr über die Wange, die sie schnell beiseite wischte. Lieber noch einen Schluck Kaffee oder einen kleinen Feigling, der verbliebene Rest, ihrer einpersonen Abschiedsfeier, die sie alleine auf ihren Balkon zelebriert hatte.

In Gedanken versunken, wie man die Fotos wohl am besten digitalisieren könnte, bevor sie zu Staub zerfallen würden, rutschte ein Bild aus dem Album, was ihr zuvor noch nie aufgefallen war. Ellen kannte es definitiv nicht. Es konnte auch auf gar keinen Fall aus dem Fotoalbum stammen, da war sie sich zu 150 % sicher. Es war in Farbe, klasse kombiniert Watson, und entstammte definitiv einer Polaroidkamera. Also neu, war dieses Bild auch nicht, aber was machte es in diesem Fotoalbum und was sollte sie nun damit? Auf ihrem Balkon? 

Nach längerem betrachten bemerkte sie auch an dieser Aufnahme einen ihr bekannten, gar vertrauten herben Duft, der sich aber nicht mit Bildern in ihren Kopf kombinieren ließ. 

Verwirrt erkannte sie auf der Aufnahme dann noch die eine Platte aus dem Karton. Es war natürlich die Platte „fröhlichen Märsche für jede Gelegenheit“. Allerdings lag neben der Platte noch ein Zettel: „B-Seite, 3. Lied, 1/2 Geschwindigkeit“. Mhhhh …

Ach, scheiß darauf. Ellen zündete sich ihre letzte Kippe an, schnappte sich die Platte und ging hinein zum alten Plattenspieler, den sie zum Glück noch nicht sicher verpackt, für den Umzug, hatte. Mit der Kippe im Mund, drinnen rauchte sie eigentlich niemals, friemelte sie die Scheibe aus der Pappe und legte die B Seite auf. 

Lied eins, der B Seite der „fröhlichen Märsche für jede Gelegenheit, war gruselig und laut. In Gedanken an ihre Großmutter tat Ellen es ihr aber gleich und begann, rhythmisch ihre Arme zu bewegen und zu dirigieren. Nebenbei versuchte sie in den alten Topf mit der vertrocknenden Petersilie abzuaschen, um nicht den Fußboden zu treffen. Gefühlt hatte sie mehr als einen Feigling. 

Die Musik, die Erinnerungen und der Schmerz vom Verlust ihrer geliebten Großmutter komplett eingenommen, bemerkte Ellen weder das Klopfen an ihrer Wohnungstür, noch das Klicken des Türschlosses, geschweige denn die Schritte und knarrenden Dielen im Flur. Voll aufgedreht dirigierte Ellen um ihr Leben, während ihr Bäche von Tränen über ihr Gesicht liefen und sie die letzten Züge von ihrer Zigarette nahm. Doch plötzlich verstummte der zweite Marsch vom Plattenspieler und es war nur ein Knacken zu hören. War da ein Atmen? Der herbe Geruch des Fotos stieg ihr erneut in die Nase, konnte das sein? Ach, das muss Einbildung sein. Bevor sie sich da hineinsteigern konnte, ertönte aus dem Plattenspieler nun das 3. Lied. Sie verlangsamte die Geschwindigkeit und es wurde, von einem Kinderchor ein ihr wohlbekanntes Kinderlied angestimmt, welches ihr einen Schauer über den Rücken fahren ließ:

„Der Plumpsack geht um, der Plumpsack geht um. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den …“ Ein dumpfer Schlag traf Ellen und ein lautes Dröhnen gefolgt von einem Rauschen erfüllte ihren Kopf. Gefolgt von einem harten Schmerz und nie endender Dunkelheit.

Ende