Fremde Erinnerungen

Text: Palandurwen
Foto: Pexels Lisa Fotios
CN: Kindheitserinnerung, Verlust

Es war staubig und angegilbt. Der Einband an den Kanten bestoßen und abgegriffen, zum Teil ausgefranst. Von der wahrscheinlich ursprünglich mal dunkelgrünen Farbe war nur noch ein Schatten übrig geblieben. Ihre Finger strichen sachte über das raue, aufgesprungene Leder, zogen die Risse im Material gedankenverloren nach. 

Sie konnte es da nicht liegen lassen. Zu stark sprach es zu ihr, zog sie magisch an. Dabei wagte sie es noch nicht einmal, es aufzublättern. Allein schon das Äußere des alten Fotoalbums faszinierte sie, sodass sie es ohne zu handeln der doch sehr darüber irritierten Frau auf dem Flohmarkt abkaufte. 

Wer wollte denn so ein olles Ding mit Bildern von Fremden bei sich zu Hause stehen haben? 

Sie. 

Sie wollte. 

Und sie wusste nicht einmal, wieso. 

Einen tiefen Atemzug später wagte sie es endlich und hob sachte den vorderen Einband hoch, um ihn aufzublättern. Das Innere knackte vernehmbar. Das Seidenpapier vor der eigentlich ersten Seite war unschön zerknittert, mehrfach verknickt und hatte diverse Flecken in unterschiedlichen Braunschattierungen. Eine Mischung aus Staub und Stock kroch ihr in die Nase.

Mit spitzen Fingern griff sie die rechte untere Ecke und schlug das Schutzpapier um. Dahinter prangten zwei Bilder in Sepiatönen mit geriffeltem Rand. Auf ihnen jeweils die gleichen beiden Personen, sich in den Armen liegend, auf dem einen Bild beide bemüht noch in die Kamera zu schauen, auf dem zweiten offenbar einem spontanen Lachanfall erlegen, die Kontrolle endgültig verloren, gelöst und selig.

Sie besah sich die fremde Erinnerung und lächelte. Ihre Fingerspitzen verfolgten die Konturen der Gesichter. Erforschten die Haptik des Retro-Fotorandes. Strichen rundherum am Buchschnitt des Albums entlang. Dabei blieben sie an einer kleinen Erhebung hängen und zogen diese leicht mit sich. Ein loses Bild rutschte heraus. Sie erkannte die darauf abgebildete Person natürlich ebenso nicht. Es hatte außen auch keine so hübsche Zierborte mehr, sondern war eine Polaroid-Aufnahme, wahrscheinlich aus den 90ern. 

Dennoch erfasste sie eine tiefe Rührung beim Betrachten dieses Fotos. 

Nicht wegen des Motivs – zwei Menschen standen erschöpft vor einem mehr schlecht als recht aufgebauten kleinen Zelt. 

Ihr schoss etwas ganz anderes in den Sinn.

Das Geräusch, wenn man bei diesen großen, klobigen Sofortbild-Kameras den Auslöser drückte und innen scheinbar die wildesten Vorgänge abliefen. Das leise Kratzen und Quietschen, wenn langsam das noch weiße Foto herausfuhr. Wie Ihr Vater es ihr immer hinhielt, sie es wie eine Blüte vom Apparat pflücken durfte und dann völlig gespannt das schwere, sich noch warm, aber glatt anfühlende Papier schwenkte. Immer weiter schwenkte. Als sei die Luftzufuhr das Wichtigste, als wäre es die letzte, magische Zutat für diesen Zauber.

Und dann, erst blass und verwaschen, dann immer klarer und stärker umrissen, erschienen die Formen und Farben wirklich. 

Waren gebannt auf diesem kleinen Quadrat.

Wurden auch eingeklebt in Alben. Oder aufbewahrt in Schuhkartons. Angepinnt an Korkwände. 

Wo sie nach und nach wieder ihre Leuchtkraft abgaben.

Ihr Strahlen verloren.

Ähnlich wie die Erinnerungen.

Kleine, scheinbar unendlich wertvolle Momente, deren Bedeutung aber im Nachhinein doch verflogen. 

Waren sie nicht wichtig genug?

Oder gab es einfach zu viele davon? 

Ungeachtet dessen: Was ihr doch im Gedächtnis blieb – und das, obwohl niemand es jemals abgelichtet hatte – war diese innige Zweisamkeit zwischen sich und ihrem Papa. Diese unausgesprochene Vertrautheit, Eingeschworenheit. 

Jeder wusste, was zu tun war.

Beide waren unbedingt notwendig für dieses Kunstwerk.

Sonst würde es nicht gelingen. 

Sonst war es nicht das Gleiche. 

Sonst war es nur eine chemische Reaktion.

Sie trug das Polaroidbild der beiden Fremden in ihre Küche, wo sie es an ihren Kühlschrank heftete. Direkt neben einer Aufnahme von sich und ihrem Vater. Wenige Tage bevor er sie verließ …