Sing Halleluja

Text von: Phalinea

Foto von Kris Schulze von Pexels


Die Kirche war proppenvoll. Die Menschen standen dicht an dicht in den Gängen und saßen noch enger auf den schmalen Bänken. Heute kamen alle, die das ganze Jahr sonst nicht die Kirche betraten. Das galt auch für mich und meine Familie, aber wir mussten hier sein, denn immerhin sang Niklas im Gospelchor, mit dem er heute seinen ersten Auftritt hatte.

Also versuchen wir einen Platz zu ergattern an diesem völlig überfüllten Ort, was sich für einen
5-Personen-Haushalt doch schwieriger gestaltet, als meine Mutter angenommen hatte.

Wären wir pünktlich losgefahren, dann müssten wir nicht dicht gedrängt in diesem ungeheizten Gemäuer ausharren. Doch unsere Familie ist nicht unbedingt mit einem Verständnis für Pünktlichkeit gesegnet, sodass wir eigentlich immer und überall in der letzten Minute ankommen.

Wie jedes Jahr am Heiligabend saßen wir nachmittags in dem Wohnzimmer meiner Eltern und genossen die gemeinsame Zeit bei Kaffee und Plätzchen.

Diese ruhigen Momente im Kreise der Familie sind mit den Jahren immer seltener geworden.

Jeder von uns hatte sich mittlerweile sein eigenes Leben aufgebaut und eingerichtet. In mitten der Arbeit, den Freunden, den Hobbies und all den anderen Dingen mit denen ich meinen Alltag fülle, kommt meine Familie leider oft viel zu kurz. Das wird mir in Stunden wie diesen meist schmerzlich bewusst. Umso mehr genieße ich sie nun.

Aber wie jedes Jahr um diese Zeit beginnt meine Mutter sich mit geübter Redekunst einen Monolog zurecht zu legen, in dem sie wieder ausführlich beschreibt, wie schön sie die Weihnachtszeit findet. Sie erzählt von glorreichen vergangenen Zeiten mit lieben Menschen in gemütlicher Atmosphäre, schwelgt in Erinnerungen an die strahlenden Weihnachtsfeste ihrer Kindheit und zu guter Letzt, wie jedes Jahr, berichtet sie von den geradezu lebensverändernden Besuchen in der Kirche, zu denen sie ihre Großmutter immer begleitet hatte, während ihr Gesicht wieder diesen melancholischen Ausdruck bekam.

Und wie jedes Jahr haben wir auch dieses Mal versucht diese Anspielungen ganz gekonnt zu überhören und schnellstmöglich das Thema zu wechseln, da wir genau wissen wie der nächste Punkt auf der imaginären Liste aussah.

Grundsätzlich wurde dieser Monolog gefolgt von dem Satz „Ach, jetzt wo ich so darüber nachdenke, könnten wir doch auch heute in die Kirche. Es ist schließlich Weihnachten“. Mittlerweile wird dieses Vorhaben sogar visuell untermalt mit Hilfe eines Zeitungartikels den sie zufällig gefunden oder einer Sprachnachricht die sie erhalten hat.

Ich sollte an dieser Stelle wahrscheinlich erwähnen, dass wir nie und ich betone hiermit NIE in die Kirche gehen. Nicht zu Ostern, nicht zu Christi-Himmelfahrt und erst recht nicht zu Weihnachten. Wir sind ja nicht einmal getauft!

Doch dieses Jahr war es anders. Der Versuch des Themenwechsels war eher halbherzig und mehr aus dem Traditionswillen heraus, als aus wirklicher Ablehnung. Das vergangene Jahr war für uns alle anstrengend gewesen. Es war gespickt mit vielen schlimmen Neuigkeiten, dunklen Momenten und schweren Gedanken, doch ebenso mit freudigen Ereignissen und schönen Geschichten.

Meine Mutter kramte erneut einen Artikel passend zu ihrem Monolog hervor und verkündete stolz, dass Niklas dieses Jahr in unserer Kirche auftreten würde und sie wirklich sehr gerne dabei sein möchte.

Ehe ich mich versah hörte ich mich zustimmend sagen „Vielleicht sollten wir das ausnahmsweise mal machen. Wird bestimmt nett…“

Völlig erstaunt von mir selbst verlor ich mich in meinen Gedanken, in denen sich immer mehr Fragen manifestierten „Niklas. Niklas? Wer ist denn bitte Niklas?“

Nun stehen wir hier in dem unbeheizten, leicht muffigen Gebäude in der hintersten Reihe einer Gruppe Menschen in der wir absolut niemanden kennen und warten gespannt auf den Chor.

Während der Wartezeit drehe ich mich zu meiner Mutter, um sie nun endlich zu fragen, bevor der Moment vorüber ist. „Du sag mal… Wer ist eigentlich dieser Niklas?“

„Das weißt du doch! Das ist der Sohn von der Mitbewohnerin der Nachbarin meiner Kollegin Elke. Ganz süßer Fratz…“ sagt sie ganz selbstverständlich.

In meinem Kopf erschienen nur noch mehr Fragezeichen. -Naja, wird schon stimmen- denke ich mir während mir immer mehr die feuchte winterliche Kälte in die Knochen kriecht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ist es endlich soweit und der Chor aus kleinen Halblingen betritt die Bühne und ein freudiges Raunen stolzer Eltern erfüllt den Raum. Niemand in dieser Gruppe mag älter gewesen sein als 10 Jahre.

Als das Klavierspiel erklingt, verstummt das Gemurmel und alle warten gespannt auf den Gesang.

Die Musik erfüllt kraftvoll den Raum, der Chorleiter fiebert seinem Einsatz entgegen, der Chor beginnt synchron tief einzuatmen. Einen Lidschlag später ertönt in der Kirche ein niedlich-schiefer Gesang bei dem sich mein Körper unwillkürlich anspannte und ich ein Stückchen zurückwich.

Nach ein paar Minuten hörte ich die Stimme meiner Mutter „Puh… das ist ja… nun ja… … …. Ist eigentlich auch ganz schon kalt hier, habe ich gar nicht mehr so in Erinnerung. Ich denke bevor wir uns erkälten sollten wir wohl besser wieder ins warme Wohnzimmer wechseln…“

„Und was ist mit diesem Niklas?“

„Ach, der sieht uns hier hinten sowieso nicht …“

Sie dreht sich um und bewegt sich unauffällig zum Ausgang.