Das schönste Geschenk

Text: Palandurwen
Bild: Canva
CN: Alzheimer, Alter, Pflegeheim

82 Jahre. Und ihre Augen wirkten dennoch so leer, als hätten sie noch nie etwas gesehen. Als sei der Bewohner dahinter schon lange Zeit ausgezogen. Dafür tummelten sich auf ihrem Gesicht jede Menge Falten und kleine Runzeln. Unter ihnen verbargen sich symmetrische Gesichtszüge, umrandet von grauem Haar, inzwischen kurz geschnittenen, denn das war praktischer.

Heute sei kein so guter Tag, hieß es schon am Empfang.

Dennoch sagte ich mit ganz viel Freundlichkeit „Hallo”, während ich meine Jacke auszog und sie beim Hinsetzen über die Stuhllehne hängte.

Ihr Blick flackerte, als hätte man den Strom zu einer alten Röhrenlampe angeknipst, die nun langsam ihren Dienst aufnahm. Dann sah sie auf, mich unsicher an, lächelte scheu und nickte mir zu. Sie versuchte erfolglos zu überspielen, dass sie mich nicht erkannte.

Ich schluckte den Kloß, der sich zu Anfang meiner Besuche immer in meinem Hals bildete, hinunter und versuchte ein wenig mit ihr zu plaudern. Über Dinge, an denen sie sich festhalten konnte. Dinge, die immer da waren. Dinge, bei denen es nicht auffiel, wenn sie sich zu sehr irrte.

Das Wetter.

Ja, ja, heute war es mild, aber gestern erst, da hatte es doch so schlimm geschneit!

Hatte es nicht.

Aber ich nickte. In ihrer Welt war vor drei Monaten gestern. Das war okay.

Das Essen.

Nein, dieses Restaurant hier war eigentlich nicht so nach ihrem Geschmack. Aber das Personal sei so nett und es lag so nah an ihrer Wohnung. Da geht es schon mal.

Es war kein Restaurant, sondern das Pflegeheim. Und ihre Wohnung gab es nicht mehr. Sie war hier zu Hause. Schon über drei Jahre.

Ich seufzte und lächelte sie an.

Wenn sie zu sprechen begann, tanzten bei jeder Form, die ihre Lippen dabei bildeten, eine andere Region ihrer kleinen Runzeln über das Gesicht. Dabei hörte sich ihre Stimme ein wenig kratzig und leise an. Ich musste oft die Ohren spitzen, um nichts zu überhören. Denn schon kleine Nuancen konnten ein Hinweis sein, dass es gleich wieder vorbei wäre. Dass sie gleich wieder die Verbindung verlor. Ich wollte nichts verpassen. Sie nicht verpassen.

Schon zu viel von ihr war verschütt gegangen. Ihr Körper fraß Löcher in ihr Hirn, biss Stück für Stück alle liebevollen und mühsam geknüpften Verbindungen in ihrem Kopf durch. Alles, was von ihr übrig war, was noch nicht unwiederbringlich in eine dieser Fallen getappt war, drängte sich wahrscheinlich in einem Winkel zusammen. Bald schon würde es keinen Weg mehr für ihr Selbst geben, um aus dieser Dunkelheit zu finden. Die noch übrigen Pfade waren verschlungen und wurden immer weniger.

Doch noch kannte ich ein paar.

Im Hintergrund sah ich den jungen Pfleger, der uns wie verabredet den sperrigen Plattenspieler vorbeibrachte. Sie verstummte und starrte ihn skeptisch an, fast schon fluchtbereit. Seine Miene war arglos und freundlich, er ließ sich nicht beirren. Mit geübten Handgriffen schloss er das Gerät an.

“Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid. Ich setz’ mich drüben mit einer Tasse Kaffee hin.” Er machte eine Kopfbewegung zu einem der Tische, ein paar Meter entfernt, an dem schon zwei Kolleginnen saßen. Spärlich verteilt an dem ein oder anderen Tisch fand sich eine ähnliche Paarung wie an unserem. Alles mal mehr, mal weniger dringliche Versuche, noch einen kleinen Funken des geliebten Menschen zu erhaschen und dann tief in sich wie einen kostbaren Schatz aufzubewahren.

Ich nickte ihm zu.

Dann griff ich in meine Tasche und holte die heutige Platte der Wahl heraus. Es musste eine echte Platte auf einem echten Spieler sein. Nur das originale Knacken, das Rauschen und Kratzen vermochte den Zauber ins Rollen zu bringen. Vermochte die Brücke über den Schluchten zu errichten, die ihr einen kleinen Moment der Flucht ermöglichten.

Das schwarze Rund begann sich langsam zu drehen, ich ließ die Nadel herabgleiten und als sie ihren Platz mit einem kleinen Ruckler in der Rille fand, erklang die samtweiche Stimme von Elvis Presleys “Heartbreak Hotel”, 1956.

Der Rhythmus war wie der einer langsam anfahrenden Lokomotive. Und mit jedem der treibenden Takte wurde ihr Blick wacher, ihre Finger begannen auf den Schenkeln zu klopfen. Gleich – gleich wäre es soweit.

Und von einem Augenblick auf den nächsten saß meine 16-jährige Großmutter vor mir. Sie wiegte sich zur Musik. Sie grinste breit, sodass ich mindestens doppelt so viele Falten zählen konnte,  beugte sich verschwörerisch vor und meinte, ungeduldig und aufgeregt: “Ob er wohl bald kommt?”

Sie sprach von meinem Großvater. Es war immer er.

Er, der auf ihrem ersten Schulball mit ihr zu Elvis getanzt hatte. Der sie bei den “You Can’t Hurry Love” schmetternden The Supremes zu ihrer Hochzeit übers Parkett gewirbelt hatte. Und der auch mit Ende 40, kurz bevor er uns viel zu früh für immer alleine ließ, immer nur sie auserwählte, wenn Whitney Houston “I wanna dance with somebody” ins Mikrofon schmetterte.

Musik war ihre Sprache. Schon immer gewesen.

Und Musik war auch heute der verlässlichste Weg, um sie durch ihre Kraterlandschaft im Kopf hindurch zu lotsen und ihr ein paar Momente des Glücks und der Freiheit zu schenken.

Sie begann in die Hände zu klatschen und überraschend textsicher mitzusingen. Auch das versammelte Pflegepersonal sowie die drumherum verteilt sitzenden anderen Bewohner und Besucher horchten auf. Ihre Stimme war sorglos, ein wenig zittrig, aber als ob das nicht durchs Alter käme, sondern durch die Vorfreude.

Als das Lied endete, zog sie eine enttäuschte Schnute.

„Nochmal!”, forderte sie bettelnd.

Ich setzte die Nadel erneut in die Rille. Sie sprang hocherfreut auf, behände wie ein 82-jähriges Rehkitz, und begann auf ihren wackeligen Füßen durch den Raum zu tänzeln.

Ich sah sie förmlich vor mir, mit ihrer kunstvoll zu Wellen und Rollen frisierten, blonden Haarpracht und in einem weit schwingenden Tellerrock, nur echt mit Petticoat darunter. Knieumspielend. Alles andere sei unzüchtig.

Diesen Spruch hatte selbst ich noch zu hören bekommen.

Sie drehte sich und kam ins Wanken, da sprang ihr der junge Pfleger pflichtbewusst zur Seite. Sie strahlte übers ganze Gesicht.

„Da bist du ja! Wir sind doch schon fast zu spät! Komm!”

Fordernd legte sie seine eine Hand an ihre Hüfte, die andere hielt sie wie ein Schraubstock in ihrer und trat wie selbstverständlich an ihn heran. Dabei schaute sie ihn mit freudiger Erwartung von unten her an.

Sein ganzer Körper versteifte sich. Seine Augen, unsicher geweitet und von den hochgezogenen, adrett geschwungenen Augenbrauen überdacht, schienen zu erwägen abzulehnen. Aber dann ließ er sich doch von ihrer ungestümen Freude, dem ungeduldigen mikroskopisch kleinen Zappeln in ihren Gliedern mitreißen. Und schon schwoften die beiden gemeinsam durch den großen, alles andere als festlichen Gemeinschaftsraum mit graugewölktem Linoleumboden. Doch im Kopf meiner Großmutter waren sie in der Schulaula, wunderschön geschmückt, und Elvis rief zum Tanzen auf. Und die runzlige 16-Jährige quietschte bei jeder Drehung hochvergnügt.

Als die Platte ein viertes Mal durchgelaufen war, war auch sie erschöpft. Immerhin hatte sie doch den ganzen Abend durchgetanzt. Sie erbat sich einen kleinen Abschiedskuss – ein wenig verlegen hauchte der Pfleger ihn ihr auf die Wange –, dann schafften wir sie gemeinsam auf ihr Zimmer.

Sie wollte noch nichts ins Bett, darum steuerte sie ihren alten, viel zu riesigen Lieblingssessel an, in dem sie eigentlich mehr versank als saß – kein Wunder, war es doch der meines Großvaters. Als sie sich dann erfolgreich unter zwei dicken Decken eingegraben hatte, blinzelte sie mir glückselig aus ganz kleinen Augen zu.

“Das war eine schöne Feier!”

Und schon schlief sie ein.

Alle großen und kleinen Falten noch immer da. Aber ein wenig verzogen, von dem absolut befreiten Lächeln auf ihrem Gesicht.

Ja, ich kannte noch ein paar wenige Pfade, auf denen sie den Weg aus ihrem Irrgarten fand. Und ich würde diese, so oft ich es nur konnte, immer und immer wieder für sie gehen, sie an der Hand nehmen und hinausbegleiten.

Das war mir das größte Fest, das schönste Geschenk.