Das Wunderland ruft. Teil 1
Text von: Mir
Beitragsbild von: MostlyPremade
CN: Gewalt, Fäkalien, Ungerechtigkeiten, Blut
„Ab mit dem Kopf!“, dröhnte die Stimme der Königin durch die Reihen der Menschen. Alice wurde hart zu Boden gedrückt. Einer der beiden groben Männer hatte seine schwielige Hand in ihren Nacken gepresst und drückte ihren Kopf extra fest in eine demütige Position. So ein Arsch. Sie hörte das belustigte Glucksen, dass er von sich gab, als sie vor Schmerz aufstöhnte. Ihre Knie waren wund von dem harten Pflaster, auf das sie nieder gedrückt wurde. Sie sah schmutziges Stroh, Unrat. Der Gestank des Aborts stieg ihr in die Nase und Alice würgte. Was hatte sie Unrechtes getan? Der Soldat presste ihren Kopf weiter herunter. Sie versuchte Abstand zu halten, aber er drückte nach und die braune Masse berührte ihr Gesicht. Sie hatte nichts Falsches angestellt. Die Bilder, wie es hierzu kam, schossen durch ihr inneres Auge.
Die Königin war wieder von einer Reise heimgekehrt. Sie hatte in einem anderen Königreich irgendetwas mit Fröschen zu erledigen. Alice war erst seit kurzer Zeit ihre Leibdienerin und sie hatte ihre Herrin noch nie zu Gesicht bekommen.
Die Letzte. Nein daran mochte sie nicht denken. Das junge Mädchen sortierte die Kämme aus dem Reiseschrank der Königin in die Schubladen.
„Bist du noch nicht fertig“, donnerte eine Stimme hinter ihr.
Alice drehte sich erschrocken um. Im Raum stand ihre Herrin in einem schwarzroten Kleid.
„Du wagst es, mich anzusehen Mädchen. Auf die Knie, wie es sich für eine Dienerin gehört. Hat man dir keine Manieren beigebracht?“
Alices Körper reagierte und sie sah nur noch den schwarzen, mit roten Herzen bestickten Saum, des Kleides ihrer Königin. Sie wagte es nicht, erneut aufzusehen. Die Letzte, die einen Befehl missachtete, war ihre Vorgängerin und.
Sie vermochte den Gedankengang nicht zu Ende bringen, da donnerte ihre Herrin schon wieder los. „Ich hätte in Martha nicht baden sollen, sie war wesentlich schneller als du. Naja, aber es war Zeit für einen neuen Besen. Lass dich anschauen.“
Das Mädchen reagierte nur zögerlich. Ihre Herrin trat vor. Alice stand auf und die Königin griff sie fest am Kinn. Ihre Fingernägel drückten sich unsanft ins Fleisch ihrer Wangen.
„Jung, starke Augen, sieh mich an!“
Alice reagierte nicht.
Die Königin holte aus und ihre scharfen Nägel hinterließen rote Striemen in ihrem Gesicht.
„Ich sagte, sieh mich an, es ist dir nun erlaubt.“
Das Mädchen hob den Blick und sah, in schwarze gierige Augen, die Eis versprühten.
„Gut so Kleine. Diene wohl und es wird dir nicht schlecht ergehen, widersetzt du dich mir, dann weißt du, was dir blüht?“
Ihre Nägel gruben sich so in die Wangen des Mädchens, dass sie nicht zu antworten vermochte. Die Königin bedachte sie erneut mit einem prüfenden Blick und ließ sie endlich los.
„Sehr wohl Herrin“, sprach Alice leise, indessen sie sich in eine ehrerbietungsvolle Verbeugung zwang.
„Du hast ja doch Manieren gut so und jetzt fahre mit deiner Arbeit fort. Zum Abendessen bist du fertig, hinterher wirst mir in meine Abendgarderobe helfen.“
Aber dazu kam es nicht mehr. Alice fiel einer der Kämme aus der Hand und zerschlug auf dem Boden. Bevor es die Königin merkte, sprach sie die Worte, die sie bei ihrer letzten Herrin gelernt hatte, und der zerborstene Gegenstand setzte sich wieder zusammen. Was Alice hingegen nicht wusste, Magie hinterlässt Spuren und die Herzkönigin nahm sie wahr.
„Du bist eine Hexe. Sehr gut. WACHEN!“, schrie die Königin und nun befand sich Alice hier auf dem Platz.
„Exodus Kapitel 22, Vers 17, eine Hexe sollst du nicht am leben lassen! Ab mit dem Kopf!“, verkündete die Herrin dieses Landes erneut. Die Menge johlte auf.
Sie nahm Magie wahr und badete im Blut ihrer Dienerinnen, setzte Alice im Geist zusammen. Wenn sie nur wüssten. Ihr war nun klar, dass die Königin selbst eine Hexe war. Es ergab alles einen Sinn. Sie bedienstete nur so junge Dinger. In unbewanderten Jahren waren sie nicht so geschickt darin, ihre Spuren zu verwischen.
Alice wurde hart vom Unrat aufgehoben. Die Soldaten gaben ihr keine Chance von alleine auf die Füße zu kommen und so schliffen ihre Beine immer wieder nach Halt suchend auf dem Boden entlang und sie zog sich weitere Verletzungen zu. Sie sah den Richtblock, unter welchen ein Becken für das Blut angebracht war, aber so, dass ihr Volk es nicht wahrnahm. Der Scharfrichter stand mit einer glänzenden Axt am Rand des Blocks. Alice sah nur seine kleinen bös funkelnden Augen und die fauligen Zähne, die gelb und schwarz aus dem grinsenden Mund blitzten. Der Rest war unter einem Jutesack verborgen. Er sah mehr aus wie eine Vogelscheuche denn ein Mensch. So dürr war er und so schlaff hingen die Kleider an seinem Leib. Die Königin waltete nicht erquicklich mit ihrem Volk.
Der Soldat zwang ihren Hals auf den Block und sein heißer Atem streifte ihr Ohr. Er flüsterte: „Zu schade um deinen weißen Leib. Verspreche, mir zu dienen, und ich werde dich retten.“
„Ich bin eine Hexe und die Königin bedarf mein Blut, ich glaube nicht, dass sie gnade walten lässt. Außerdem was habe ich von so einem Lurch wie dir, schon zu erwarten?“, sagte Alice mit einem aufsässigen Knurren.
Sie stöhnte auf, als er ihr mit dem Knauf der Waffe auf den Hinterkopf schlug, dass es schepperte.
Der Scharfrichter trat neben sie. Sie roch selbst hier unten seinen fauligen Atem.
Das war es also.
Sie hörte, wie er ausholte. Alice schloss die Augen. Ein letzter Atemzug fauler Luft.
Gleich würde das Beil niedersausen und…
„Steh auf mein Kind.“
„Bin ich Tod?“
„Nein, deine Zeit ist nicht gekommen und jetzt öffne die Augen und steh auf.“
Alice gehorchte. Sie hob den Blick und sah, wie alle Menschen um sie herum in ihren Bewegungen eingefroren waren. Was war hier los?
Sie richtete sich auf. Penibel darauf bedacht nicht mit dem scharfen Beil in Berührung zu kommen, welches nur wenige Momente von ihrem Hals entfernt in der Luft verharrte. Sie drehte sich um und hinter ihr stand eine hochgewachsene Frau in Kleidern, die der Herbst selber gefertigt haben musste. Ihr Spitzhut hing ihr tief ins Gesicht. Alice sah genauer hin und wich sie zurück.
Das Antlitz der eindrucksvollen Frau war zur Hälfte das eines Totenschädels und zur anderen das einer betörenden jungen Maid.
„Fürchte dich nicht mein Kind, ich bin hier, um dich zu retten. Ich bin die Hexe des Herbstes und gekommen um dich in eine bessere Welt zu geleiten.“
„Aber was, wieso?“
„Ich sah dein Leid und ich werde eine von uns nicht so hier verenden lassen. Insbesondere dann nicht, wenn eine andere dich ausnutzt, um sich selbst daran zu bereichern. Und jetzt komm schnell, meine Magie wird sie nicht lange im Griff haben.“
Alice nahm die dargereichte Hand und schaute kurz zurück.
„Wir haben uns nicht das letzte Mal gesehen!“, schrie die Königin, deren Kopf sich langsam wieder regte.
Dann trat Alice mit der Hexe durch ein Tor, das sich leuchtend vor ihnen in der Luft auftat.
„Was passiert jetzt mit mir?“
„Du wirst in meinem Reich leben und das in völliger Freiheit, solange du keinem anderen Wesen, dass unter unserem Schutz steht, ein Leid antust.“
Die Welt, in der sich die beiden Frauen nun weilten, war so neu. Der Wald schillerte in den Farben des Kleides der Hexe. Glitzernde Insekten schwirrten durch die Luft, welche nach Honig duftete. Ein blauer Nebel sauste durch die Wiese und die Blüten von Blumen, die Alice nicht kannte, taten sich auf. Es war wunderbar.
„Wo gehen wir hin?“
„Erst besorgen wir dir neue Kleidung, dann bin ich zu einem Geburtstag eingeladen und ich werde dich dort mit hinnehmen. Anschließend bringe ich dich in ein Heim für Wesen, die neu in dieser Welt sind, dort wird man sich um dich kümmern.“
Ihr weg führte sie durch den Zauberwald und bald schon kamen sie an ein kleines Pfefferkuchenhaus. Es war ganz fein ausgeziert mit allerlei Zuckerwerk und Honigkuchen. Die Hexe des Herbstes bereitete ihr auf wunderbare Weise ein Bad, das ihre Wunden heilte und gab ihr neue Kleidung. Es war ein blaues Kleid, das wie Wellen um ihren Körper floss und sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl und geborgen.
„Du sagtest, wir gehen auf ein Geburtstagsfest, aber ich habe kein Geschenk und ich kenne nicht einmal die Gastgeber?“
„Sorg dich nicht, du bist hier willkommen und nicht ein Wesen, so gruselig es auch auszusehen vermag, wird dir ein Leid zufügen.“
So traten sie wieder hinaus in den herbstlichen Sonnenschein.
Die Hexe des Herbstes griff nach einem Schirm und drückte die überraschte Alice an sich. „Gut festhalten.“ Sie spannte ihn auf, er war orange mit verschlungenen Kürbismustern.
Dann spürte Alice, wie sie nach oben gezogen wurde, und schlang automatisch ihre Arme um die ältere Frau. Es war seltsam, die blanken Knochen unter der Kleidung zu fühlen. Diese Welt war ganz und gar magisch.
Ihr Flug dauerte nicht lange und bald schon landeten sie auf einer Waldlichtung vor einem riesigen Tisch mit allerlei Gebäck und feinstem Porzellan.
Die Hexe des Herbstes schloss den Schirm und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
Alice schaute sich um. Die Tafel war reich gedeckt. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Kleine Küchlein in den verschiedensten Farben türmten sich neben feinstem Porzellan in Weiß und Blau auf. An dem Tisch standen keine normalen Stühle, sondern große Ohrensessel in unterschiedlichen Stoffen.
„Wenn mir die Frage erlaubt ist, wer hat denn Geburtstag?“
„Meine Liebe, bei uns musst du nicht so förmlich sein, das wirst du gleich im Verlauf der Feier merken. Hast du eine Frage, stelle sie. Sei höflich, respektiere jedes Wesen, dann wird man auch dir gegenüber freundlich sein. Jedoch so Steife Umgangsformen brauchst du hier nicht einhalten. Respekt kommt durch Handeln nicht durch geschwungene Vokabeln. Die Königin hatte für dich geflügelte Worte, doch keine Achtung. Und um deine Frage zu beantworten der Basilisk vom Gipfel der Anderswelt und das Eichhörnchen aus den fernen Buchlanden, welches die Schreibstuben leitet, haben nicht Geburtstag.“
„Nichtgeburtstag?“
„Also eigentlich schon, aber sie wollten gemeinsam feiern. Der Basilisk hatte und das Hörnchen hat erst noch ihren Ehrentag. Deshalb zelebrieren wir heute in der Mitte, den Nichtgeburtstag.“
Das schien Alice einzuleuchten.
„Und wo sind unsere Gastgeber?“
„Sie sollten jeden Moment da sein, setz dich schonmal und nehm dir ein wenig Tee.“
„Gibt es eine Tischordnung?“
„Nein, einfach wohin du magst.“
Alice suchte sich einen großen Ohrensessel mit bordeaux rotem Polster aus. Sie griff zur Kanne, aber diese erhob sich von ihrem Stövchen und schenkte ein.
Die Hexe des Herbstes lachte und auch vor ihr schwebte ein dampfend heißes Gefäß und goss ihr ein.
Hinter einem der Sessel kam ein Mann mit einem schief sitzenden Zylinder hervor. „Oh da seid ihr ja schon!“, erklang eine Stimme. Aus einem Loch in seiner Krempe kletterte eine kleine Maus.
„Entschuldigt die Verspätung, der Weg vom Berg herunter zog sich heute etwas.“ Ein violett geschuppter Drache mit Hahnenkropf und Kamm, sowie einer Nickelbrille ließ sich auf einem Sessel nieder und griff vornehm nach seiner Tasse, welche ihm flugs gefüllt wurde.
„Zuspät, zuspät, zuspät“, rief ein weißer Hase in Anzug und steckte seine Taschenuhr weg, nachdem er sich auf einem grünen Sessel nieder ließ.
Schmunzelnd prostete die Hexe des Herbstes ihnen zur Begrüßung zu.
Ein Rascheln im Baum erregte Alice Aufmerksamkeit. Sie schaute hoch und ein etwa katzengroßes Eichhörnchen, das ein Tintenfass an der Hüfte und eine Feder hinter dem Ohr geklemmt hatte, sprang in einem eleganten Salto vom Ast herab auf den Tisch. Die Maus, welche sich neben Alice gesetzt hatte, zog schnell ihr Service beiseite, damit es nicht zu Bruch ging.
Der Basilisk applaudierte. „Wie immer ein Famoser auftritt Freundin Eichhorn. Ich hoffe die Buchgeschäfte, laufen zur Zufriedenheit?“
Das Eichhörnchen nickte, plusterte das Fell auf und setzte sich auf den letzten verbliebenen Sessel.
„Da wir ja nun alle versammelt sind“, sprach der gut behütete Mann, „wollen wir feiern. Herzlichen Glückwunsch zum Nichtgeburtstag meine lieben und willkommen in unseren Reihen Alice.“
Das fest hob an. Alice beobachtete das bunte treiben. Die Maus, die zu ihrer Rechten saß, erklärte ihr die Spiele. Die verschiedenen Törtchen waren magisch, jeder Gast sollte mindestens zwei verspeisen. Die Person, die aß, musste die Aufgabe des Kleingebäcks lösen. Bald schon flogen die Sessel durch die Luft und es wurden fröhlich die Plätze getauscht, lustige Nasen gezaubert und Lieder gekrächzt.
Alice hätte sich gerne weiter mit der Maus unterhalten, doch als sie ein Küchlein aß, zwang dieses sie, einen Zauber wirken, der ihren Sessel, mit dem des Basilisken tauschte und so saß sie neben dem Hutmacher. Er versprach ihr sie am nächsten Tag in der Herberge abzuholen und ihr einen Hut zu gestalten der ihren Augen schmeichelte. Sie wusste nicht ob sein Kompliment, dass sie ein Hutgesicht hätte wirklich eines war, aber ihre Gedanken wurden durch das Törtchen der Herbsthexe je unterbrochen.
„Oh, dann habe ich wohl das Geschichtentörtchen erwischt“, sprach sie überrascht.
„Oh deine Geschichten sind immer die spannendsten liebe Hexe“, erwiederte das Schreibhörnchen. „Was für eine wirst du uns heute erzählen?“
„Ich weiß nicht, welche mögt ihr denn hören?“
Der Hase meldete sich zu Wort und tat ganz förmlich: „Wenn es mir erlaubt sei, einen Wunsch zu äußern, dann würde ich vorschlagen, dass du die Geschichte der Geburt der Anderswelt aus deiner Sicht erzählst. Immerhin kennt Alice sie noch nicht und ich finde sie immer wieder schön!“
Am Tisch erklang zustimmendes Gemurmel.
Der Hase war der Einzige, welcher während der ganzen Feier starre Umgangsformen eingehalten hatte. Alice lächelte der Herbsthexe zu.
„Also gut, aber dafür müssen wir die Umgebung etwas verändern.“ Die Hexe klatschte in die Hände und Tisch und Sessel erhoben sich in die Luft und flogen in den dunkelen Sternenhimmel, der sich inzwischen über der Feiernden Gesellschaft gebildet hatte.
Alice zuckte kurz zusammen, aber entspannte sich rasch, als alle begeistert aufjohlten oder ruhig sitzen blieben.
„Es war einmal vor langer, langer Zeit…“, begann die Hexe des Herbstes zu erzählen.
Ich war 17 Jahre alt, als ich den Ruf der Magie empfing.
Meine Mutter eine Frau, welche die Gebräuche noch achtete, brachte mich bei Nacht und Nebel hinaus in den Wald zu einer alten Vettel, die selbst eine Hexe war und meine Ausbilderin werden sollte. Von ihr lernte ich alles, was ich über die magische Welt wissen musste.
Die Zeit verging und innerhalb eines Jahres beendete ich meine Ausbildung. Es viel mir sehr leicht. Ich lernte, die Natur zu schützen und die Vorteile der Magie zu schätzen. Zum achtzehnten Geburtstag stellte mir die Hexe die Aufgabe, meine Bestimmung zu finden und bei einem Wesen den Dienst anzutreten.
Ich reiste durch den Wald, die Nacht brach ein, jedoch fand ich kein Wesen, in dessen Dienste ich hätte treten können. Der Wald schien wie ausgestorben, obwohl in diesem doch sonst so viel Leben steckte. Niemand zeigte sich.
Erschöpft ließ ich mich auf einem alten Baumstamm an einem Bach nieder und schlief ein.
Ich sah, wie die Wesen in der Welt gejagt wurden. Die Menschen zerstörten ihren Lebensraum. Sie verstanden sie nicht. Wir Hexen hatten es gut, sind wir doch in der Lage, unerkannt unter ihnen wandeln. Dann erwachte ich.
Der Morgen war angebrochen und dicke Nebelschwaden drangen aus dem Boden. Ich erschrak. Ein Fährmann stand neben mir. Seine knöcherne Hand auf meine Schulter gelegt.
„Es hat einen Grund, warum du heute Nacht kein Wesen trafest. Du bist zu Höheren bestimmt.“
Meine Zeit war noch nicht gekommen, ganz im Gegenteil. Ich diente fortan dem Fährmann. Die Menschen starben und er vermochte nicht alle einzusammeln. Ich baute ein Haus und lockte die verstorbenen Seelen zu mir.
Eines Tages, ich wandelte in der Nähe des Dorfes, aus dem ich stammte, hörte ich das Weinen zweier Kinder. Wie ein Lufthauch unsichtbar, doch wahrnehmbar trat ich in die Stube. Die Mutter der beiden war gestorben. Ich geleitete ihren Geist in mein Haus. Aber die Kleinen folgten mir. Irgendwie nahmen sie wahr, dass die Seele ihrer Mutter wanderte. Ich zauberte ein Lagerfeuer, ließ sie einschlafen und legte eine Spur aus Steinen, sodass ihr Vater sie fand.
Es war aber eine schlimme Zeit damals. Eine Krankheit sorgte dafür, dass immer mehr Menschen starben, und so raffte es auch ihn dahin.
Als ich seine Seele abholte, folgten mir die Kinder abermals. Diesmal vermochte ich sie erst spät abzuschütteln, doch sie fanden mein Haus.
Was sollte ich tun? Sie waren alleine, ich nahm sie bei mir auf und kümmerte mich um sie.
Alice ließ sich eine frische Tasse Tee eingießen und lauschte der Geschichte gespannt. Ihr kam diese Erzählung bekannt vor. Aber sie wusste nicht woher.
Die Hexe des Herbstes erzählte weiter.
Die Kinder hatten es gut bei mir. Doch ich musste darauf achten, dass sie nicht erkannten, wer ich war und was ich tat. Hexen hatten keinen guten Ruf. Sie würden die falschen Schlüsse ziehen, wenn sie sahen, was ich tat. Eines Nachts müssen sie mir dann auf die Schliche gekommen sein. Vielleicht hatten sie auch schon immer etwas vermutet. Ich war gerade beim Brotbacken. Da stießen mich die Kinder in den Ofen und verschlossen die Tür. Ich verbrannte und sie flohen vor mir, ich wollte ihnen doch nie was böses. So war ich die nächste Seele, die der Fährmann abholte.
Er lächelte mich traurig an, als er mir seine Knochenhand reichte. „Es ist eine Schande, wie sie mit dir umgesprungen sind, du kannst nichts für deine Begabung.“
„Ach mein Lieber, sie wussten es nicht besser.“
Eine Träne rann der Hexe des Herbstes über die junge Wange.
Der Hase saß ganz ergriffen auf seinem Stuhl und schniefte in sein Taschentuch und Alice, Alice erkannte die Geschichte. Das war doch Hänsel und Gretel.
Die Hexe hob wieder an.
Er fuhr mich ans Ufer der anderen Seite. Als ich durch das Tor treten wollte, traten drei Frauen durch dieses zu mir und lächelten.
Der Fährmann legte mir seine Hand auf die Schulter.
„Du warst mir eine treue Dienerin, doch nun bist du von deiner Arbeit befreit.“
Ich spürte, wie mein Körper sich veränderte, griff in mein Gesicht und fühlte wie sich Fleisch, auf den blanken Knochen bildete.
Die Hexe des Frühlings trat auf mich zu und reichte mir die Hände.
„Sei willkommen Schwester. Endlich sind wir vereint. Komm, es wird Zeit.“
Sie nahmen mich in ihre Mitte und ich erfuhr, dass ich die letzte Hexe der Jahreszeiten war. Der Herbst. Mit unserer gemeinsamen Magie schufen wir dieses Refugium, fernab der Menschen. Wir waren es, die vor Jahrhunderten die Anderswelt erschufen, um Wesen aus der Menschenwelt einen sicheren Ort zu erschaffen.
Sie schaute in die Runde. Der Mond schien hell und klar.
„Aber jetzt meine lieben. Es ist schon spät und ich muss Alice noch in die Herberge bringen, wenn ich zu spät komme, wird mir Margot etwas erzählen.“
Der Sessel von Alice schwebte vom Tisch weg und sie verabschiedete sich von der Gesellschaft. Der Hutmacher bekräftigte erneut, dass er sie am Morgen besuchen würde.
Alice und die Hexe des Herbstes flogen auf ihren Sesseln auf eine Stadt zu.
„Du bist die Hexe aus dem Märchen Hänsel und Gretel!“
„Ja und nein. Du hast meine Wahrheit gehört. Hänsel und Gretel ist die ihrige. Ich fresse keine Kinder. Doch das Pfefferkuchenhaus. Diese Idee zweier unschuldiger Wesen, die einen falschen Schluss zogen, fand ich charmant!“
„Warum hast du die Geschichte nicht aufgelöst, nie klargestellt, dich nicht verteidigt?“
Die Hexe des Herbstes schaute traurig in die Ferne.
„Wem hätte es was genützt. Wir haben hier unser Refugium.“
Was wohl noch alles falsch überliefert wurde?
In Alice erwachte in diesem Moment ein Wunsch. Eine Idee, ein Funken. Sie wollte die Erzählungen der Wesen dieser Welt unbedingt aufschreiben und auf die Erde zurückbringen. Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Abend.
Ende