Der Büchersturm
Text: Palandurwen Instagram Twitch
Bild: Pexels Juan Pablo Serrano
CN: Angst, Kampf, Verletzung
Kassandras Herz pumpte eiskaltes Blut in ihre Zehen, Füße, Beine, ihre Fingerspitzen, Hände und Arme. So war es immer, wenn Angst in ihr aufstieg. Noch ein, zwei Atemzüge länger zögern und sie wäre endgültig gelähmt. Wäre diesem Magier vor ihr ausgeliefert.
Noch einmal versuchte sie aus dem Augenwinkel im Schatten den zotteligen kleinen Hund ausfindig zu machen. Doch vergebens. Keine Spur von Lupinja. Dem Mann lag sein Lächeln unverändert auf den Lippen und um seine Augen kräuselte sich die Haut zu kleinen Rüschen. Fast könnte sie ihn sympathisch finden, dachte die junge Hexe. Wenn er ihr nicht eine höllische Angst einflößen würde.
“Wissen Sie, ich habe jetzt Pause. Wenn Sie also nichts anderes vorhaben …”
Er ließ mit einer beiläufigen Handbewegung eine Jalousie am Fenster im Vorraum herabrauschen, dann die nächste.
“… würde ich mich freuen, wenn wir uns vielleicht ein wenig austauschen könnten.”
Eine Scheibe nach der anderen verschwand hinter dem Sichtschutz und verbarg die prekäre Situation im Inneren des Antiquariats höchst erfolgreich vor den Augen der Passanten im sicheren Draußen.
“Worüber wollen wir uns denn … austauschen?”
Kassandra bemühte sich um eine einigermaßen gefestigte Stimme. Doch in ihren Ohren klangen die Worte wackelig, quietschend, atemlos. Nicht sehr überzeugend. Hier würde sie noch etwas nachdrücklicher um ihre Fassung ringen müssen.
“Oh, ich wäre sehr interessiert an Ihrer Person. Ihre Herkunft, beispielsweise. Wenn ich denn so forsch fragen darf.”
“Das kennen die Wenigsten und ist auch kaum der Rede wert.”
Sie würde sich doch hier nicht aushorchen lassen. Angriff ist die beste Verteidigung!
“Und selbst?”, fragte sie und legte sich den Hauch eines süßlichen Lächelns auf die Lippen.
“Ganz ähnlich, vermute ich.”
Er stieß sich vom Türrahmen ab und machte ein, zwei Schritte auf Kassandra zu, sie nie aus den Augen lassend und erstaunlich gekonnt um jeden Bücherstapel auf dem Boden manövrierend. Nie berührte seine Schuhspitze auch nur einen Einband. Keiner der scheinbar kostbaren, teilweise goldenen Buchschnitte wurde durch ihn versehrt. Oder sorgte seine Telekinese dafür, dass sie alle beiseite sprangen? Einen winzigen Moment von dieser Überlegung abgelenkt, stand er schon vor ihr. Wieder viel zu nah.
“Wissen Sie, was mich besonders fasziniert?”
Er hob seine Hand, allerdings fixierte sein Blick immer noch ihren. Dank seiner Magie jedoch spürte sie zittern und bebend, wie sich die Kette um ihren Hals langsam von ihrer Haut abhob und der Anhänger aus ihrer Bluse emporschwebte.
Die Perle mit dem Rückholzauber!
Als sie in sein Blickfeld kam, war er das erste Mal von ihr abgelenkt. Es machte sich wilde Gier in ihm breit und er wollte schon seine Finger nach dem Schmuckstück ausstrecken, als alles ganz schnell ging.
Wie eine donnernde Kanonenkugel schoß Lupinja aus dem Schatten dem Mann ins Kreuz, schleuderte ihn zu Boden, biss ihm in den Nacken. Kassandra sprang instinktiv zur Seite, presste mit einer Hand die Perle wieder an sich, verlor jedoch über einen der unzähligen Stapel stolpernd das Gleichgewicht. Während sich die Bücher wie eine Welle vor ihren Füßen ergoss, sich dabei aufblätterten und teils kunstvolle Vorsatzpapiere zeigten, prallte sie unsanft gegen die Glasvitrine, deren Scheibe laut klirrend unter ihrem Ellenbogen zerbrach. Sobald ihr Arm auf dem Almanach landete, durchfuhr sie ein jeher Strom aus Hitze. Er warf sich ihr regelrecht entgegen, als ob er es dem Hund gleich tun und sich zerfleischend um ihre Kehle kümmern wollte. Unter größter Mühe rang Kassandra ihn nieder und stopfte ihn in ihre Tasche zu seinem deutlich sanfteren Bruder.
Gerade noch rechtzeitig, denn der Magier erholte sich von der Überrumpelung der Formwandlerin und versuchte bereits, sie von seinem Rücken zu zerren. Doch wieder und wieder versenkte die Hündin ihre Zähne in sein Fleisch. Wahllos fiel ihr alles zum Opfer, was sie erreichen konnte.
Dennoch gelang es dem Mann, telekinetisch die Bücher aus den Regalen zu fegen und als Geschosse auf sie einschlagen zu lassen. Buchecken schnitten in ihrer aller Haut, schwere Wälzer krachten auf sie hernieder, drohten ihr die Knochen zu brechen, die Schädel einzuschlagen. Als auch die Regale selbst gefährlich zu wackeln begannen und sie wohl gleich unter sich begraben würden, versuchte Kassandra verzweifelt, ihre Magie zu sammeln – und fand in ihren Venen eine glühende, ungekannte Kraft. Tosende Funken an ihren Fingerspitzen. Instinktiv entfesselte die Hexe einen Sturm.
Ob lose Seite, abgerissener Einband oder ganze Enzyklopädien – alles wurde empor gerissen und begann um die drei Gestalten zu kreisen. Immer schneller und schneller ließ Kassandra die Windhose sich drehen. Dabei schob sie sich in ihrem Inneren weiter voran, Richtung Ausgang. Währenddessen gelang es dem Animateur jedoch endlich, Lupinja abzuschütteln. Auf diesen Moment hatte die Windmagierin aber nur gewartet. Sie packte die Hündin im Nacken, zerrte sie sich unter den Arm und schleuderte mit ihrem anderen den Sturm samt seiner schweren Fracht auf ihren Gegner. Ein Bersten und Krachen, ein Schrei, schmerzverzerrt, wutentbrannt.
Doch das war ihr egal. Ohne zu wissen, ob sie ihn getroffen hatte, ob er überlebt hatte, sprintete sie zur Ladentür. Der Schlüssel steckt noch im Schloss, sie drehte ihn und riss die Tür auf. Dann rannte sie raus, so schnell ihre Beine konnten, den zotteligen Hund mit der blutigen Schnauze an ihre Brust gepresst.
Mit einem schweren, kehligen Ächzen ließ Lupinja sich auf die alte Couch fallen, welche diese Aktion mit einem ähnlich erbärmlichen Geräusch quittierte. Die Frau hatte ein Handtuch um die Schultern gelegt, auf das ihr nasses Haar tropft. Sie war gerade aus der Dusche gekommen – eigentlich eher gekrochen – und sah dennoch einfach nur jämmerlich aus.
Kassandra, in der anderen Ecke des Möbels versunken, war kein besserer Anblick. Blaue Flecken und Schnittwunden verteilt über den gesamten Körper. Dazu zahlreiche Prellungen, für die es in diesem Haus nicht genug Eis zum Kühlen gab. Darum hatte sie daran gar nicht erst einen Gedanken verschwendet.
Stattdessen starrte sie unentwegt auf ihre kleine Tasche, die seit der Ankunft in ihrem Versteck zornig auf dem Beistelltisch vor sich hin vibrierte. Dieser Almanach-Zwilling war eindeutig nicht normal. Er schien eine Art Eigenleben zu haben. Und in ihm steckte auf jeden Fall eine besondere Macht, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Oder gespürt. Gedankenverloren rieb sie sich über die Fingerkuppen.
“Das war gar nicht mal schlecht vorhin.”
Kassandra fuhr aus ihren Überlegungen auf und starrte Lupinja verwirrt an.
“Dein kleiner Wirbelsturm. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.”
“Ich mir eigentlich auch nicht. Das war aktive Magie. Die beherrsche ich normalerweise nicht so gut”, erwiderte sie, schon wieder halb in der Betrachtung des zitternden Beutels versunken.
“Ach?”
Lupinjas rudimentäre Art der Kommunikation störte Kassandra sonst durchaus. Allerdings traf ihr wortkarger Ausdruck der Verwunderung einfach so gut, dass sie nur leicht abwesend zustimmend nickte.
“Es kann nicht an dieser Welt liegen. Die Magie ist hier nicht so stark. Also …”
“Also was? Meinst du etwa, dieses Ding hat etwas damit zu tun?”
Die Formwandlerin zog skeptisch eine Augenbraue hoch, als eine schon längst zum Abwaschen überfällige Teetasse vor lauter Beben auf dem Tisch zu klappern begann.
Kassandra schloss sich Lupinjas Gesichtsausdruck an und sah sie kurz unsicher an. Die Frau hatte sich schon in Hab-Acht-Stellung aufgesetzt. Zwar taten ihr alle Knochen weh, aber sie würde in ihrem Heim nicht unvorbereitet in eine böse Überraschung tappen.
“Warte kurz!”, ordnete sie an, stand auf und lief zu einem kleinen Schränkchen in der hinteren Ecke des Raumes. Sie zerrte seine etwas schräg in den Angeln hängende Tür auf und schob ungeduldig die sich davor stapelnden Werbeprospekte zur Seite. Aus dem Inneren kramte sie einige Kerzenstümpfe hervor, kehrte zur Raummitte zurück und stellte sie wie einen Kreis um Couch und Tisch herum auf. Mit einem Feuerzeug, das sie auch irgendwoher gefischt hatte, zündete sie die Dochte nacheinander an. Den Letzten erst, als sie bereits die entstandene Linie überquert hatte und von ihr nun eingeschlossen war.
“Improvisiert, aber es wird schon seinen Zweck tun.”
Kassandra nickte. Der Aufbau eines Schutzbanns stand somit bereit. Sie beide hatten eine Vermutung, was als nächstes passieren würde, doch sicher wussten sie es nicht. Es half nichts. Also starteten sie den Versuch.
Die Hexen richteten ihre volle Aufmerksamkeit auf die Tasche.
Ein Moment der Stille, nur unterbrochen vom stetigen Klirren des Porzellans.
Dann stieß die Windmagierin ihren Atem aus und griff hinein.