Die Suche beginnt

Text von: Palandurwen

“Jetzt nur noch ‘ne Alraune hinzufügen, zehnmal gegen den Uhrzeigersinn und dreimal mit ihm umrühren. Dann ist dit Jebräu fertig.” Die junge Hexe schaute erwartungsvoll in den blubbernden Kessel, während die Alte weiter vor sich hinmurmelte und sie unwirsch mit der Hand wegscheuchte.
“Eene vorwitzige Nase von dir is keene Zutat für dit Rezept, wenn ick mir recht entsinne!”, knurrte sie, “aber een Haar von dir!”

Mit einer blitzschnellen Bewegung, die sie ihr gar nicht zugetraut hatte, riss die Frau eines ihrer violett schimmernden langen Haare aus und warf es in den Trank. Er färbte sich schlagartig in der gleichen Nuance, knallte daraufhin und stieß eine gräuliche Wolke mit kleinen Funken aus.
Dann herrschte Stille im Kessel. Die Flüssigkeit lag da, wie ein dunkler Spiegel, nein, eher ein dunkles Loch. Kassandra konnte sich nicht darin erkennen – nur leere Schwärze. Ein bodenloser Abgrund.
Hatte sie sich das gut überlegt?
Wollte sie wirklich in diese andere Realität springen?

Es war nun einmal ihre Aufgabe, Verlorenes wiederzufinden. Als eine der talentiertesten Windflüsterinnen in der Stadt war dieser Berufsweg naheliegend gewesen. Doch im Normalfall spürte sie Schätze auf, fand besonders rare magische Zutaten oder auch den ein oder anderen Fluch, den man einander heimlich untergeschoben hatte. Eine vermisste Weltenspringerin jedoch war etwas Neues.
Lange hatte man beratschlagt, ob man die Suche wirklich einleiten sollte. Ungeübte Weltenspringer schlidderten nämlich gern auch mal in Zwischendimensionen und fanden dort dann nicht wieder heraus. Doch es handelte sich um keine X-beliebige Hexe, sondern um eine der Führerinnen ihres Zirkels. Dass sie sich verirrte, war mehr als unwahrscheinlich. Irgendetwas musste ihr also zugestoßen sein.
Und nun oblag es Kassandra, die Vermisste ausfindig zu machen.
“Nur finden. Ich kann sie nicht retten!”, hatte die junge Hexe betont. Denn ihre Magie war zwar mächtig, aber um ehrlich zu sein eher von passiver Natur. Das Gremium hatte augenrollend genickt und ihr zu diesem Zweck eine Kette mit einer obszön großen schwarzen Perlen überreicht. Darin befand sich das Gegenstück zu dem Trank, vor dem sie gerade stand.
Sobald sie die Weltenspringerin gefunden hatte, sollte sie sich ihr einfach nur nähern und die Perle vor den beiden auf dem Boden zerplatzen lassen. Dann würde der automatische Rückhol-Zauber ausgelöst, der sie zu einem vorbestimmten Ort in dieser, ihnen heimischen Welt transportieren sollte. Kassandra hoffte bei sich, dass das Brauen eine kundigere Person übernommen hatte, als bei ihrem letzten Transport-Zauber. Damals fühlte es sich nämlich an, als ob sie eine Toilettenspülung hinab gerissen würde. Und zu allem Übel kam sie nie am anvisierten Ziel an, sondern landete damals tatsächlich in einiger Entfernung – direkt in einem Ententümpel.
Wasser.
Wie sie dieses Element hasste.
Für eine Windflüsterin wie sie war jeder Tropfen eine Art Bremse, der ihrer Gabe Stolpersteine in den Weg stellte.
Instinktiv schüttelte sie sich, als die alte Hexe vor ihr sie ruppig ansprach.
“Hallo? Jemand zu Hause? Woll’n wa nu oder ham wa’s uns anders überlegt, junge Dame?”
Kassandra schwang ihr langes Haar trotzig über die Schulter, zog den Riemen ihrer kleinen Provianttasche noch einmal fest und blitzte die Alte aus ihren bernsteinfarbenen Augen entschlossen an.
“Wir können. Was muss ich tun?”
Ohne auch nur ein kleines Plätschern, Gurgeln oder Blubbern zu erzeugen, tauchte die große Schöpfkelle in die matte, dunkle Flüssigkeit ein.
“Stell dich jenau hier hin und wart’s nur ab.”
Die Alte deutete auf einen Fleck neben dem rostigen Kessel auf der Feuerstelle und Kassandra positionierte ihre moosgrünen Stiefel so exakt wie möglich auf den zugewiesenen Platz.
“Und nun atme eenmal tief een und zähl bis vier!”
Das Mädchen tat wie ihr geheißen.

Eins …

Zwei …

Drei …

In diesem Moment holte die alte Frau kräftig aus und goss ihr den Schwall Zaubertrank aus der Kelle mitten ins Gesicht.

Vier.

Wasser.
Wie sie das Zeug hasste.

Der jungen Hexe kroch der noch lauwarme Trank über die Haut und hinterließ ein eigenartiges Prickeln. Sie strich sich entnervt die Flüssigkeit aus den Augen.

“Thank you for traveling with Kessel Tours!”, murrte sie.
Dann schaute sie sich um.

Durch den Weltensprung-Zauber reiste man in die ewig parallel existierende zweite Realität, in der das Schicksal eine, Kassandras Meinung nach, perverse Abzweigung gewählt hatte und statt den Hexen den gebührenden Respekt zu erweisen, diese zu vermeintlichen Teufelsanbeterinnen degradiert hatte. Dass die Menschen sie unter dieser Prämisse versuchten auszurotten, war irgendwie verständlich, wenn auch unsinnig. Aber gleichzeitig ergab es sich dadurch, dass gewisse magische Ressourcen in dieser Welt noch unangetastet zur Verfügung standen, während sie in ihrer eigenen Realität rar waren. Die Weltenspringerinnen hatten zur Aufgabe, möglichst unbemerkt genau diese Kostbarkeiten zu bergen. Damit ihnen das gelang, waren sie wahre Kennerinnen dieser anderen Dimension, wussten um Bräuche, Gewohnheiten und allerlei Dinge bestens Bescheid und fügten sich perfekt in sie hinein.
Damit Kassandra zumindest optisch eine kleine Weile lang ihr Umfeld täuschen könnte, hatte man ihrem Reisetrank eine entsprechende Verhüllungskomponente beigefügt. Das Ergebnis betrachtete die junge Hexe nun dezent unbegeistert in einem der großen Schaufenster, vor dem sie aufgekommen war.

Nicht nur ihre sonst so lebendigen, langen Haare waren hier von einem tristen Schwarz, auch ihre Augen wirkten alles andere als funkensprühend. Mürrisch inspizierte sie ihre stinknormale hellbraune Iris und wandte sich dann, einen Schmollmund ziehend ihrem restlichen Äußeren zu: Schwarze Hose, weiße Bluse, schwarze Jacke. Ging es noch nichtssagender? Sie war gewiss nicht eitel, aber wie die Weltenspringerinnen sich diese Zumutung regelmäßig und freiwillig antun konnten, war ihr ein Rätsel.
Sie löste den Blick von der Scheibe und drehte sich um. Nur um entnervt zu seuftzen: “Ist in dieser Welt denn alles einfach nur grau und fad?”

Langsamen Schrittes bewegte sie sich wahllos in eine Richtung – es war wirklich egal, denn alles wirkte gleich stupide –, um ein Gefühl für die Umgebung zu bekommen. Sie befand sich auf einer Straße, rechts und links gesäumt von hohen Häusern aus Stahl und Glas. Viele Menschen strömten hin und her, unterhielten sich oder starrten auf kleine Kästen in ihren Händen. Nichts, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Natürlich nicht. Diese Dimension war einfach nur öde.

Besser gleich ans Werk machen, damit sie in dieser Tristess nicht länger als nötig verweilen musste. Ihr Inneres sehnte sich schon jetzt nach ihrem kleinen Laboratorium in der Stadt und ihrem Gefühl der Verbundenheit mit der Welt. Hier nämlich spürte sie kaum etwas. Viel zu viel Stein und Reflexion – kaum ein Raum für Magie. Sie würde diese erst zum Fließen bringen müssen.
Die junge Hexe ging möglichst unauffällig hinüber zu einer Bank, die unter einem großen Baum stand – das einzige bisschen Natur weit und breit. Hier könnte sie wohl am ehesten die nötigen Kräfte bündeln. Sie tat, als würde sie sich dort kurz ausruhen wollen. Als sie sich einigermaßen sicher war, dass niemand sie beachten würde, übte sie in ihrem Schoß die erste Reihe an Handzeichen aus, welche den Wind aufhorchen lassen sollten.
Im Normalfall würden nun schon lange Strähnen ihres Haares um ihren Kopf herum tanzen und eine leichte Brise würde ihr sanft und lauwarm die Wangen streicheln. Doch – nichts geschah. Die Stirn verwundert krausziehend wiederholte sie die Gesten, diesmal etwas offensichtlicher und mit Nachdruck. Vielleicht musste der Wind in dieser Welt erst etwas aufgeweckt werden?

Doch wieder nichts.
Kassandra wurde nervös.

Es gab Magie in dieser Welt. Das wusste sie. Warum also konnte sie sie nicht aktivieren? Sie spürte die vertrauten Funken in ihren Fingerspitzen – an ihr lag es also nicht. Irgendetwas aber schirmte sie ab, ließ nicht zu, dass ihre Kräfte sich ihren Weg suchten. Was blockierte diese elende Welt nur?
Sie schaute sich suchend um und verfluchte sich selbst dafür, nicht doch noch mal die Nase zu Hause in ihre Bücher über die Anthropologie der Parallelwelt gesteckt zu haben. Krampfhaft versuchte sie sich die Magiehemmnisse ins Gedächtnis zu rufen, als sie einen zottigen Hund in einer kleinen, unscheinbaren Gasse wahrnahm. Er fixierte sie. Bildete sie sich das nur ein? Nein, er starrte sie regelrecht an. Und nicht neugierig oder ängstlich – Kassandra erkannte eindeutig feindselige Schwingungen. So viel flüsterte der Wind ihr doch noch zu.

Sie schluckte und erhob sich. Sofort versteifte sich das Tier noch mehr. Sie tat einen Schritt auf es zu, dann noch einen. Der Hund legte die Ohren an, sträubte sein Fell. Als sie nur noch einige Meter entfernt war, fletschte er die Zähne und begann zu knurren. Dann, in einem Sekundenbruchteil, wandte er sich um und rannte in das Halbdunkel der Gasse.

Was sollte das denn jetzt – sie war doch nicht der amtliche Hundefänger?! Und doch – sie wusste, dass dieses verlauste Vieh garantiert ein magisches Wesen war und somit eine erste Spur für ihren Auftrag. Entnervt sprintete sie dem schmuddeligen Fellknäuel also hinterher.

“Bleib stehen, du elender Flohzirkus!”, rief sie ihm zu. Doch der Hund dachte gar nicht daran. So schnell, dass sein vor Dreck abstehendes, halblanges Haar hin und her wehte, trommelten seine Pfoten einen irren Rhythmus auf den Boden, der ihn immer weiter von ihr forttragen sollte. Doch einer der Vorteile einer Windflüsterin ist es, dass Rennen ihr im Blut liegt und sie stets Rückenwind hat. Endlich holte sie auf, als das Tier auf eine große Metalltonne sprang und sich ihr stellte. Kassandra, kaum atemlos, strich sich beiläufig eine Strähne zurück hinter das Ohr und beobachtete die Situation. Ihre Fingerspitzen knisterten, hier würde die Magie ihr wohl besser zur Verfügung stehen. Doch bevor sie auch nur einen Finger krümmen konnte, knackte und zuckte der Hund vor ihr auf höchst ungesunde Art und Weise.

In völlig unnatürlich anmutende Posen und Winkel verrenkten sich wie von selbst die Glieder des Tieres. Dabei schien es gleichzeitig zu wachsen. Immer länger wurden Arme und Beine und immer massiger der Rumpf. Schließlich polterte dezent unsanft eine menschliche Gestalt auf den runden Tonnendeckel.

“Eine Formwandlerin? In dieser Welt?” Kassandra staunte nicht schlecht.
“Was hast du hier zu suchen, elende Sturmkrähe?” Die sich vor ihr enthüllte Hexe bellte die Worte mehr, als dass sie sie normal aussprach. Ihr Äußeres war so ungepflegt, wie ihr hündisches Alias. Und auch ihre Körpersprache schien sich noch nicht wieder vollständig an das menschliche Dasein gewöhnt zu haben. Die hockende Pose, bereit zum Sprung und das grimmige Gesicht erzählten davon, dass die Frau länger, als es gut war als Hund gelebt hatte.

Dennoch hielt sich Kassandras Mitleid in Grenzen. Immerhin war Sturmkrähe eine der schmählichsten Beleidigungen für ihresgleichen. Stolz reckte sie ihr Kinn und sagt kühl: “Ich bin auf einer Mission. Ich suche eine vermisste Weltenspringerin. Hast du sie zufällig vielleicht schon mal gebissen?”

Das letzte Kommentar konnte sie sich nicht verkneifen.
Die Formwandlerin knurrte.
“Zieh deiner Wege, das hier ist keine Welt für solch ein zartes Lüftchen wie dich!”

Kassandras Finger zuckten instinktiv und sofort begann ein Luftstrom Kreise um ihre Gegenüber zu ziehen. Immer enger und enger wurde der Strudel, sodass die struppige Frau ganz das Hundsein vergas und ihr nervös entgegnete: “Hör auf, verdammt noch mal oder willst du unser beider Ende?”

Die junge Hexe ließ den Miniturnado brechen und schlenderte betont lässig auf die Tonne zu.
“Pass auf – erklär es mir, dann kannst du wieder ganz in Ruhe deinem Köterdasein fröhnen. Denn ich will hier wirklich nichts weiter, als meinen Auftrag erfüllen und wieder ab nach Hause. Ich mach dir dein Revier nicht streitig und werde dich bestimmt in Ruhe lassen. Mich siehst du nie wieder!”

Grimmig verzogen sich die Lippen der Formwandlerin zu einem Lächeln.

“Na da haben sie ja ein besonders kluges Exemplar von eurer Sorte geschickt. Schätzchen – nach Hause würd ich auch gern wieder. Es geht nur nicht. Ich sitze hier seit Jahren fest!”

Skeptisch zog die Windflüsterin ihre Augenbraue hoch.
“Ich habe einen Rückhol-Zauber …”

“… der dir hier auch nichts bringen wird! Irgendwas blockiert die Magie dieser Welt. Magische Wesen sind hier ja ohnehin unbeliebt, aber selbst die wenigen verschwinden eins nach dem anderen. Was glaubst du wohl, wieso ich als Hund lebe? Bestimmt nicht, weil das so glamourös ist!”

Kassandra kamen Zweifel.
Auch sie hatte es vorhin gespürt. Die Magie floss nicht wie erwartet. Wäre dies eine typische Eigenart dieser Realität, hätten die Weltenspringerinnen darüber berichtet. Doch mit keiner Silbe war davon jemals die Rede.
Unbewusst zwirbelte sie sich eine Haarsträhne um die Finger, während die Formwandlerin sie spöttisch beobachtete.
Selbst wenn sie ihren Auftrag soweit bringen könnte, dass sie die Gesuchte fand. Wenn die Magie hier nicht floss, würde der Rückhol-Zauber nichts bringen. Da hatte die andere Hexe wohl Recht. Ob sie die Perle einfach jetzt und hier zerspringen lassen sollte? Vielleicht war der Trank noch mächtig genug. Frisch aufgebrüht war immer besser als nahe am Verfallsdatum – das ist wie bei Milch und Eiern, überlegte sie.
Aber sie hatte noch nie eine Suche nicht abgeschlossen. Das würde ihren Ruf für immer beschädigen. Auf der anderen Seite: Ein Ruf nützte ihr in dieser Welt rein gar nichts.
Immer weiter verfiel Kassandra in diese Gedankenspirale. Das war einer der Nachteile von Windflüsterern – auch in ihren Köpfen tobten häufig Stürme, so schwer, dass eine Entscheidung kaum mehr möglich war. In diesen Momenten waren Erdhexen immer besonders praktisch. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Das heisere Lachen der anderen riss sie endlich aus ihrem immer panischer werdenden Grübeln heraus.
‘“Mädchen, gewöhn dich dran. Du sitzt hier fest! Aber vielleicht können wir ja einen Handel abschließen …”

“Was für eine Art schwebt dir da vor?”

“Ich bin inzwischen recht firm mit dieser Welt geworden. Ich biete mich dir als Beraterin an. Vielleicht findest du ja doch noch deine Weltenspringerin.”

“Und was ist dein Preis?”

“Du. Oder besser deine Fähigkeiten, du kleine Schatzsucherin.”

Kassandra stutzte.

“Müsste ein Hund nicht selbst ganz gut schnüffeln können?”

Wieder das heisere Lachen. Dann sprang die Hexe von ihrer Tonne und stand gut einen Kopf größer als sie vor ihr. Ihre Augen schienen grünlich zu sein und das Mädchen konnte sich einen Moment lang vorstellen, wie herrlich intensiv ihre Farbe wohl in ihrer eigenen Dimension gewesen sein musste.

“Abgemacht – aber ich finde nichts Verbotenes. Aus Prinzip nicht!”

“Das werden wir noch sehen.”

Die Hundfrau streckte ihr ihre ungewaschene Hand entgegen, die die junge Hexe zögernd ergriff und schüttelte.

“Lupinja. Faunistische Formwandlerin dritten Grades.”

“Kassandra. Windflüsterin vierten Grades und Sucherin.”

Ende