Duell im Morgengrauen

Text: Christinchen Instagram Twitch
CN: historische Unterdrückung von queeren Personen

»Mein Herr, Euch erreicht ein Telegramm.«

Colin seufzte tief als Thomas eintrat, ein weißer Umschlag in seiner behandschuhten Hand. Er wusste genau was das bedeutete und sein Herz schlug einen Moment schneller, seine Hände fühlten sich klamm an und die Feder in seiner Hand zitterte genug, dass ein einzelner Tropfen schwarzer Tinte auf das Blatt tropfte.

Mist, jetzt würde er von vorne anfangen müssen. Sein Vater würde es nicht gutheißen, wenn ein offizieller Brief des Hauses so aussah.

Er deutete Thomas das Telegram neben ihm abzulegen und zwang sich, nicht weiter zu reagieren, nicht danach zu greifen und es aufzureißen, nicht einmal mehr als einen flüchtigen Blick wagte er.

»Eine Antwort wird erwartet«, informierte ihn Thomas.

»Ich mache sie direkt fertig.«

Mit einem Nicken verschwand Thomas wieder aus seinem Arbeitszimmer. Colin wusste, dass er nun wieder nach unten gehen würde, wo seine Mutter vermutlich schon in der Tür wartete, um ihn abzufangen und ihn auszufragen. Er würde ihr antworten. Natürlich würde er das, sie war, in Abwesenheit seines Vaters, die Herrin des Hauses und das Siegel des Telegramms war eindeutig. Dann würde Thomas die restliche Post verteilen bevor er wieder zu ihm kam, um die erwartete Antwort einzusammeln. Thomas nahm seine Arbeit sehr ernst, unter seiner Führung würde hier im Hause keine Post ungesehen gehen, kein Brief ungeöffnet und kein Telegramm unbeantwortet. Es blieb ihm also nicht viel Zeit.

Colin griff nach dem Umschlag und riss ihn vorsichtig auf.

»Colin, unser Streit dauert nun schon viel zu lange an. Er muss ein Ende finden, so kann es nicht weitergehen. Inzwischen sind Außenstehende in diesen Zwist verwickelt worden. Ich verlange von Dir, dass Du mir schnellstmöglich einen Ort und eine Zeit nennst, um das ganze endgültig aus der Welt zu schaffen. Solltest Du Dich weigern, wird dies schwere Folgen für Dich und die Deinen haben. Wenn Du weißt, was gut für Dich ist, gehst Du auf dieses Angebot ein. Gezeichnet, Valentin.«

Er seufzte. Er hatte gewusst was ihn in dem Telegram erwarten würde, es zu lesen war trotzdem nicht leicht. Am liebsten hätte er den Kopf auf die Tischplatte sinken lassen, aber dort lang noch immer an angefangen Brief, dessen Tinte langsam trocknete. Müde schob er ihn beiseite und griff zu einem leeren Blatt.

»Valentin, Du solltest besser wissen als Dein unangemessenes Verhalten als einfachen Streit abzutun. Eine solche Ehrverletzung fordert Konsequenzen. Konsequenzen, denen Du Dich verweigerst. Du hast die Ehre meiner Schwester beschmutzt, Du hast die Ehre meiner Familie beschmutzt, Du hast meine Ehre beschmutzt. Wenn Du diesen Streit beenden willst, gibt es nur eine Möglichkeit. Triff mich vor Morgengrauen auf dem Hügel hinterm Dorf. Gezeichnet, Colin.«

Kaum hatte Colin die Antwort verfasst, steckte Thomas den Kopf erneut durch die Tür. Colin gab ihm gar nicht erst die Chance nachzufragen, ob der das Telegramm beantwortet hatte, bevor er ihm den Zettel hinhielt.

»Lass es bitte direkt zustellen«, wies er ihn an. Es würde Aufpreis kosten, aber das konnten sie verkraften. Ihm blieb nur wenig Zeit jetzt. Unweigerlich würde Thomas das Telegramm einem Boten mitgeben, dann würde er erneut seiner Mutter Bericht erstatten. Dann würde das große Chaos losgehen. Doch er hatte alles vorbereitet. Bis sein Vater von seiner Geschäftsreise wiederkam, würde hier im Haus alles wie gewohnt weiterlaufen. Seine Mutter und Schwester würden sich um nichts sorgen müssen, ihr Leben würde wie gewohnt weitergehen.

»Colin!« Erneut wurde die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgestoßen, dieses Mal mit voller Wucht und spürbarem Zorn. »Sag mir, dass ich mich verhört habe«, forderte Vivien. »Sag mir, dass du nicht ernsthaft zu einem verdammten Duell mit ihm eingewilligt hast! Wir wissen beide, dass zwischen mir und Valentin in der Nacht nichts passiert ist. Wir wissen beide, dass die Gerüchte über mich irgendwann wieder verschwinden werden, wenn etwas Interessanteres im Dorf passiert ist. Was soll der Mist also?«

Langsam sah Colin auf. Seine Schwester stand in der offenen Tür, ihr Haar perfekt frisiert, mit kleinen Blüten geschmückt, im exakt gleichen violett wie ihr Kleid. Sie sah aus wie eine perfekte Dame. Im krassen Gegensatz dazu war der wutentbrannte Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Die Gerüchte? Das ganze Dorf und die nächste Stadt zerreißen sich die Mäuler über dich und damit werden sie nicht aufhören, nur weil ihnen langweilig wird. Du willst irgendwann einmal heiraten, einen standesgemäßen Mann. Solche Gerüchte wären da ein Problem, oder?«

Sie rollte die Augen.

»Ach ja? Und ich hätte gerne meinen großen Bruder da, wenn ich diesen mysteriösen Mann heirate.«

»Es tut mir leid«, war alles, was Colin dazu sagen konnte.

Vivien seufzte.

»Versprich mir, dass du vorsichtig bist«, forderte sie dann nur. Als er nickte, trat sie auf ihn zu. Die feste Umarmung sollte keine Überraschung sein, trotzdem war sie unerwartet.

»Pass auf dich auf, Viv«, flüsterte er bevor er sie wieder losließ.

»Hach, genug mit diesem emotionalen Mist hier«, fuhr die strenge Stimme ihrer Mutter dazwischen. »Gut, dass du endlich handelst, Colin. Ich dachte schon, aus dir wird einmal gar nichts.«

Sie nickte anerkennend und es versetzte Colin einen scharfen Stich im Herzen zu wissen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenn auch nicht die, die sie mögen würde, wenn das alles vorbei war.

»Ich muss mich vorbereiten«, sagte er nur und schob sie beide die Tür hinaus. Vivien warf ihm einen letzten besorgten Blick zu, doch auch sie ging ohne weitere Widerworte.

Die Kerzen in seinem Arbeitszimmer flackerten, als er die letzten Briefe schrieb, die letzten Arbeiten erledigte und dann war es so weit, er konnte es nicht länger aufschieben.

Das Haus war still als er seine Zimmer ein letztes Mal verließ. Fast erwartete er, dass ihn jemand versuchen würde aufzuhalten, dass jemand die Tasche in seiner Hand bemerken würde, dass jemand versuchen würde ihn zu begleiten, dass… dass irgendetwas schiefgehen würde, weil einfach immer irgendetwas schiefging.

Doch nichts passierte, er lief durch das schlafende Haus und trat in die kühle Nachtluft. Die Kutsche brachte ihn bis an den Dorfrand. Er drückte dem Fahrer einige Münzen in die Hand, zu viele vermutlich, aber es machte keinen Unterschied mehr und wenn, dann würde es nur zu ihrem Vorteil sein, dass der Kutscher ihm wohlgesonnen war.

Der restliche Weg durch das nächtliche Feld war beschwerlich. Der Mond leuchtete hell am Himmel, doch die Wurzeln der alten Bäume und die Unebenheiten des Bodens wurden von seinem Licht ausgewaschen und er stolperte mehr als er geradeaus lief.

»Verdammte Sch…«, erneut brachte ihn ein herumliegender Ast fast zu Fall. Ein leises Lachen erfüllte seine Ohren.

»Ja ja, lach mich auch noch aus«, brummelte er. Doch eine stabilisierende Hand schloss sich um seinen Oberarm und zog ihn die letzten Meter bis zur Mauer.

Dort ließ er sich schwer atmend nieder. Valentin setzte sich neben ihn, seine Schulter dicht an seiner. Colin konnte die Wärme, die von ihm ausstrahlte, durch sein Hemd spüren. Doch er wagte es nicht, aufzusehen. Das würde alles so viel realer machen.

»Letzte Chance für einen Rückzieher«, verkündete Valentin. Doch Colin schüttelte den Kopf. Nein, dachte er, die letzte Chance war längst vorbei. Es fühle sich bitter und doch zugleich unendlich befreiend an.

»Ich meine es ernst«, sagte Valentin leise. »Wenn du es nicht kannst, dann… dann tue ich was auch immer du von mir brauchst, damit das hier gut für dich ausgeht.«

»Und dann?«, fragte er nur. Valentin zuckte mit den Schultern.

»Nein, wir ziehen das jetzt durch«, sagte Colin mit fester Stimme. Er wusste, dass er Valentin gar nicht erst die gleiche Chance auf einen Rückzug anbieten musste. Sie würde ausgeschlagen werde noch bevor es sie fertig formuliert hatte.

»Hast du alle Unterlagen?«, fragte er stattdessen.

Valentin nickte und hielt eine Ledermappe vor sich aus.

»Hier ist alles drin«, sagte er. »Der Zug fährt in zwei Stunden, das reicht uns locker. Das Schiff geht heute Abend.«

Endlich traf er Valentins Blick. Seine Augen waren sanftmütig, wie sie es immer waren. Seine Lippen weich und Colin wollte nichts mehr als sich nach vorne lehnen und ihn küssen, aber das konnte er nicht, noch nicht. Es wäre zu gefährlich, jemand könnte sie sehen, jemand könnte…

Valentin presste seine Lippen gegen Colins. Es gab kein Zurück mehr, dachte Colin, und irgendwie war das ein guter Gedanke.

Er dachte an seine Mutter mit ihren Erwartungen, an seinen Vater mit seinen Ambitionen und seinem endlosen Fokus auf Arbeit und Geld. Er dachte an Vivien, der schöne Kleider und das Ansehen in der Gesellschaft ach so wichtig waren. Nein, das war nicht das Leben, das er wollte.

Er sah Valentin an, der seine eigene Familie zurückließ, den Laden seiner Eltern nicht übernehmen würde, obwohl es ihm Spaß machte. Valentin, der so viel für ihn aufgab.

»Wir sollten los«, sagte er dann und stand auf, eine Hand für Valentin ausgestreckt, der sich von ihm auf die Füße ziehen ließ und die Tasche mit ihrem Hab und Gut über die Schulter schwang.

Sie hatten es geschafft, dachte Colin. Nach Monaten an Planung und so vielen Hindernissen würden sie am anderen Ende des Landes, unter falschen Namen auf ein Schiff steigen, das sie über den Ozean bringen würde. Alles, in der Hoffnung auf ein besseres Leben dort.

Valentin griff nach seiner Hand und zog ihn durch das Dunkel des bevorstehenden Morgengrauens den Pfad entlang, ein sanftes Lächeln auf den Lippen.

»Was glaubst du, was sie denken wie das Duell zwischen uns ausgegangen ist?«

»Oh, ich würde absolut gegen dich gewinnen.«

»Was? Niemals!«, er lachte.