Dumpfes Trommeln gegen Glas
Von: Palandurwen Insta Twitch
CN: Besessenheit, Geisterwesen, Gefangenschaft, Tod
Die Musik dröhnte ihr mit ihrem monotonen Bass in den Ohren. Der Synthesizer darüber trieb die verschwitzten Leiber auf der Tanzfläche weiter an. Mal träge, mal rhythmisch zuckend bewegten sich die Glieder, immer im Takt der Klänge, die sich von der Bühne über die Massen aus Fleisch hinwegrollten. Wie Seetang im Ozean, der willenlos von der Brandung vor und zurück gespült wurde.
Und wie willenlos sie alle waren … das war ihnen überhaupt nicht klar.
Lange hatte sie warten müssen, lauernd in den Schatten. Fast schon wäre es zu spät gewesen, hätte ihre Kraft nicht mehr gereicht und sie hätte sich endgültig vom Sturm der Zeiten forttragen lassen müssen. Denn nicht jeder war empfänglich für ihre Künste.
Doch dann hatte sie sie gehört.
Eine Stimme wie ein Sonnenstrahl, so rein und unschuldig, und dabei so leichtsinnig. Wie sie die Seele darunter so verlockend offen und ungeschützt anpries – es war unwiderstehlich. Sie leckte sich über die Lippen. Das war ihre Chance.
In einem Moment, in dem die junge Frau am Rand von Wach und Traum stand, hatte sie die Gelegenheit ergriffen und sich blitzschnell eingeschlichen. Unauffindbar in ihrem Inneren eingenistet, verborgen und still, abwartend. Nun galt es, weiter geduldig zu sein. Sich nichts anmerken zu lassen. Sie musste sanft vorgehen, all ihren Liebreiz und all ihre Tücke einsetzen.
Anfangs war es nur ein Flüstern. Ein flüchtiger Gedanke, ein kurzes Flackern des Geistes. Die junge Frau arbeitete hart, sie stand kurz davor, endlich ihren ersten Auftritt als Sängerin zu haben. Ein Traum, der wahr wurde und in dem ihr gesamtes Leben gipfeln sollte. Da wunderte es sie nicht, dass ihr Kopf ihr von Zeit zu Zeit Streiche spielte. Bald würde sie sich eine schöne Pause gönnen und ein wenig ausruhen.
– Ausruhen? Auf die faule Haut legen?!
Woher stammte nur dieses Gefühl? Ein Drohen, eine unbestimmbare Sorge. Sie versuchte, es wegzuschieben.
– Willst du die Wahrheit wirklich nicht sehen?
Welche Wahrheit sollte das bitte sein? Dass sie langsam so sehr überarbeitet war, dass sie mit sich selbst sprach?
– Du solltest dir selbst dann vielleicht besser zuhören …
Was würde ihr Selbst ihr denn dann sagen?
– Du darfst nicht anhalten. Du musst weitergehen. Sie werden dich überholen. Sie werden dich jagen. Du darfst nicht stehen bleiben!
Aber sie war müde, sie war erschöpft. Sie hatte keine Kraft mehr. Doch was, wenn die Stimme in ihrem Kopf Recht hatte? Sie stand so kurz davor. Sie musste noch härter arbeiten!
Fast hätte sie ein leises Geräusch des Wohlgefallens von sich gegeben. Alles lief nach Plan. Bald schon wäre sie reif, könnte sie sie pflücken.
Immer weiter zehrte die junge Frau sich selbst aus. Trieb sich und ihr Umfeld erbarmungslos zu Höchstleistungen an. Noch eine Session, noch immer nicht perfekt, eine weitere Probe, ein weiterer Song. Und mit jedem Tag, mit jedem Ton, den sie sang, änderte sich ein kleines Stückchen mehr von ihr. Brach ab und verschwand im Dunklen. Verebbte im Äther und ließ sie immer weniger wie sie selbst klingen. Zurück blieb eine wackelige Hülle, die sie nur mit Mühe zusammenhalten konnte. Ein klappriges Gerüst, das einzustürzen drohte. Das Strahlen war vorbei, der reine Klang zersprungen wie Glas.
Sie war so müde.
Sie konnte nicht mehr.
Ihr Moment war gekommen.
– Du musst auf dich aufpassen! Lass mich dir helfen. Ich bin doch immer für dich da gewesen.
Die junge Frau stand in ihrer Garderobe und schaute in den Spiegel. Heute war es soweit. Ihr Debüt. Die Menge draußen war laut, doch in ihr war es lauter. Sie sah in ihre glasigen, großen Augen. Früher einmal war da ein Funkeln in diesen beiden tannengrünen, unergründlichen Flächen gewesen. Doch mehr als eine Erinnerung daran fand sich nicht mehr.
Schlaf.
Sie wollte schlafen.
– Ich gebe dir Ruhe. Komm in meine Arme, bei mir findest du Stille.
Und in ihrer völligen Kraftlosigkeit schlug sie die Lider nieder und ergab sich diesem Locken. Ruhe. Stille. Einen Moment des Verweilens und Atmens.
Es tat so gut. Sie fühlte sich leichter und losgelöst.
Lächelnd öffnete sie ihre Augen wieder und betrachtete sich prüfend im Spiegel, als erwartete sie, dass ihre tiefen Schatten wie weggewischt sein müssten.
Und wirklich – ihr Gesicht hatte sich verändert.
Die Ringe unter ihren Augen waren fort, doch der Teint wirkte blass. Wüsste sie es nicht besser, dann würde sie sagen, dass auch ihre Haare, von Natur aus ohnehin flachsblond, eine gute Nuance heller wirkten in diesem Licht. Die Wangenknochen stießen zudem kantiger, als sie es von sich gewohnt war, aus ihren Zügen hervor. Als drückte sich ein anderer Schädel durch ihre eigene Haut.
Es fröstelte ihr.
Als ihr Blick jedoch ihre Augen fand, erstarrte ihr Innerstes zu Eis und sie schrie auf – was aber ungehört blieb. Erschrocken starrte sie in das rötliche Glimmen, das die einst grünen Pupillen unterwandert hatte. Sie hatte sich die Hände vor den Mund geschlagen – doch ihr Spiegelbild folgte ihr nicht. Es lächelte sie nur süßlich an, bleckte ein wenig ihre Zähne.
“Ich danke dir! Endlich bin ich frei …”, wisperte ihre Stimme ihr leise zu.
– Nein! Lass mich raus!
Sie schrie erneut und trommelte gegen den Spiegel. Doch ihre Reflektion lachte nur, drehte sich um und verließ den Raum.
Ein Schmunzeln schlich sich bei dieser Erinnerung auf ihre Lippen. Doch es konnte dort nicht lange verweilen, war wohl nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar. Schon zerrissen die Worte der nächsten Strophe ihren akkurat dunkelrot geschminkten Mund. Sie legte ihre ganze Kraft in ihre Worte, wob ihr Herz in die Silben – und noch so manches mehr.
Ihre Mühen quittierte das Publikum, indem sich die Leiber immer weiter drehten und wandten, ahnungslos, arglos. Keiner unter ihnen wusste, was in diesem Augenblick geschah.
Ihre Stimme glich der eines Engels, auf dem Weg zur Hölle. Liebliche Höhen, gefährliches Flüstern, schmerzverzerrtes Kreischen – ein Bad aus Gefühlen, das sie über der Menge vor ihren Füßen ausgoß. Und sie alle schluckten es, tranken gierig jeden Ton, nahmen ihre Essenz in ihrem Inneren auf. Betrunken davon schoben sie sich in Trance näher zur Bühne hin. Gleich den Motten zum Licht – nur dass am Rand dieser Tanzfläche einzig die Dunkelheit auf sie wartete.
Gleich. Gleich wären sie so weit. Genug umgarnt, eingewoben in ihr Spinnennetz, sanftmütige Lämmer, die genüsslich blökend der Schlachtbank entgegen stolperten. Nur noch einige, wenige Takte würde es brauchen. Die Ekstase war greifbar. Die Seelen standen kurz davor, sich von ihren irdischen Hüllen zu lösen. Dann könnte sie sie packen und an ihnen ihren Hunger stillen.
Endlich entließ sie diesen einen letzten, raumfüllenden Schrei aus ihrer gestohlenen Kehle. Schock durchfuhr alle Glieder, die Menschen versuchten, sich noch davor zu schützen, die Hände an die Ohren zu schlagen. Sie warfen sich auf den ausgetretenen Boden, den ein schmutzverkrustetes Mosaikmuster zierte, das aber nur sie auf der Bühne wirklich sehen konnte.
Doch umsonst.
Wenn die Banshee einmal schrie, entkam ihr niemand mehr.
Das bekam nun jeder im Saal zu spüren. Es war das letzte, was sie überhaupt noch fühlten. Und dann war nur noch Schwärze.
Die übrig gebliebene Stille war dumpf und bedrohlich. Und aus ihr nährte sich ein dünner Schleier.
Gierig breitete sie die Arme aus und trieb noch einmal einen unmenschlichen Ton aus diesem fragilen Körper heraus. Und als er sich endlich von den blutroten Lippen löste, hatte auch die Geisterfrau losgelassen. Wie eine eisige Sturmböe, schemenhaft und verschwommen, stieß sie empor und trieb durch die neblige Schicht unter der Decke des Raums. Kaum wahrnehmbar für einen Menschen, denn diese Wesen waren blind für Seelen. Und mit jeder, die sie nun einsammelte, wurde sie greifbarer, realer, sichtbarer.
Am Ende hatte sie sich ein paar weitere Jahre irdisches Dasein ergaunert.
Lächelnd schaute sie, nun vermeintlich aus Fleisch und Blut bestehend, noch einmal zurück, betrachtete ihr Werk. Ein wenig Stolz und Erleichterung machte sich auf ihren scharfkantigen Zügen breit. Dann drehte sie sich um und verließ ohne ein weiteres Geräusch den Saal.
Das Einzige, was man noch hörte, war das Trommeln aus der Garderobe.
Als würde jemand dumpf gegen dickes Glas hämmern.