Wolfssilhuette vorm Sonnenuntergang

Gutenachtgeschichten

Text: Christinchen InstagramTwitch
CN: Gewalt, Rache, Mord
Bild: Pexels

»Papa! Papa! Erzähl uns noch eine Geschichte«, rief seine Tochter aufgeregt. Sie sprang auf und ab in ihrem Bett, keineswegs bereit zu schlafen.

»Na gut, aber nur eine«, gab er nach, mit einem aufgesetzten Seufzen als wäre es eine Ausnahme und nicht die Regel.

Mit einem Schrei der Begeisterung ließ sie sich wieder von ihm ins Bett legen und zudecken. Ihre Schwester auf der anderen Seite des Raums hingegen war schon fast eingeschlafen. Wie unterschiedlich die beiden Zwillinge doch sein konnten.

»Welches Märchen soll ich euch heute denn vorlesen?«, fragte er die Beiden.

»Das große, böse Rotkäppchen«, kam der zu erwartende Ruf der Beiden. Es war ihr absolutes Lieblingsmärchen. Und wenn es nach ihnen ging, würde er es jeden Tag vorlesen.

»Na gut«, gab er nach und nahm das Buch in die Hand.

»Es war einmal vor sehr langer Zeit ein junger Wolf. Er war der älteste Sohn des Wolfsalphas des Rudels und er wusste, eines Tages würde er es leiten. Doch das Rudel litt Hunger, denn die Menschen nahmen ihnen ihr Revier weg.

Denn es war so: Sei jeher gab es einen magischen Pakt zwischen den Menschen und den Wölfen. Den Menschen gehörten die Wege im Wald, auf ihnen waren sie sicher, konnten sich frei bewegen und musste sich nicht vor den Wölfen fürchten. Doch außerhalb der Wege, im dichten Wald, dort herrschten die Wölfe, dort jagten die Wölfe.

Doch die Menschen waren hinterlistig, wie Menschen nun mal so sind. Sie traten immer neue Pfade in den Wald, sie hatten Pfeile und Bögen, mit denen sie tief in den Wald hinein Rehe und Hasen jagten. Sie hatten Hunde, mit denen sie ihre erlegte Beuten holen lassen konnten ohne, dass sie jemals ihre Pfade verlassen und das Gebiet der Wölfe betreten mussten.

So jagten die Menschen mehr als sie jemals fressen konnten und die Wölfe litten Hunger, weil ihnen nichts mehr zum Jagen übrig blieb.

Doch der junge Wolf hatte genug und er hatte einen Plan. Der Plan war einfach wie genial. Denn den Pakt zwischen den Menschen und den Wölfen, den hatte eine alte Hexe tief im Wald ausgehandelt. Solange die Hexe lebte, waren die Wölfe und die Menschen gleichermaßen an den Pakt gebunden.

Doch der Pakt war nicht fair. Die Hexe war nicht unparteiisch. Heimlich hatte sie eine Menschentochter im Dorf versteckt gehabt. Nur ihretwegen war der Pakt ausgehandelt worden, hatte sie sich doch um ihr Kind gesorgt.

Der junge Wolf verstand es vielleicht. Familie, Rudel war wichtig und galt es, immer zu schützen. Doch wenn auch er einmal Junge haben wollte, mussten diese zu fressen haben. Und die Hexe war alt, inzwischen eine Großmutter. War es wirklich so verwerflich ihrem Ableben ein wenig Eile zu bereiten, wenn es so viele von ihnen vor dem Hungertod bewahren würde?

Der Wolf hatte also einen Plan. Doch die Hexe lebte geschützt an einem geheimen Ort tief im Wald. Kein Pfad führte zu ihr, kein Wolf hatte sie jemals gefunden. Ihre Magie war zu stark.

Ihre einzige Schwäche? Ja, die war das Menschenkind. Die Enkeltochter der bösen Hexe, das Rotkäppchen, wie sie es nannten.

Und das Rotkäppchen ging liebend gerne seine Großmutter besuchen, brachte ihr Kuchen und Wein, trat mit jedem Besuch seinen Pfad tiefer in den Boden des Waldes.

Doch der junge Wolf konnte den Pfad nicht betreten, nicht ohne Erlaubnis, nicht ohne Einladung.

»Guten Tag, Rotkäppchen«, sprach der Wolf. »Wo willst du so früh hinaus?«

»Zur Großmutter«, antwortete das Mädchen unbedarft.

»Rotkäppchen, sag, wo wohnt denn deine Großmutter?«

»Noch eine gute Viertelstunde im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen«, sagte Rotkäppchen.

Mit einem Lächeln lief der Wolf los, so schnell ihn seine Pfoten trugen. Er fand das Haus der Hexe und er verschlang sie mit einem Bissen. Schwer, lag sie ihm im Magen, ihre Magie würden ihn vergiften, das wusste er. Doch der Pakt war gebrochen, sobald er sie nur verdaut hatte.

Müde legte sich der Wolf in das Bett der alten Frau. Er würde hier sterben, doch sein Rudel würde endlich wieder fressen können. Doch kaum hatte er den Gedanken gefasst, kam das Rotkäppchen die Tür hinein.

»Großmutter, Großmutter«, rief es. Und als es ihn erblickte im Bett der Hexe, fragte es: »Ei Großmutter, was hast du für große Ohren? Was hast du für große Augen? Was hast du für ein entsetzlich großes Maul!?«

Und der Wolf riss sein Maul auf und verschlang auch das Rotkäppchen. Erschöpft fiel er auf das Bett zurück und erwartete seinen Tod und das Ende des Pakts, der sein Rudel befreien würde.

Doch die Menschen wären nicht die Menschen, wenn sie nicht eine letzte List bereit hätten. So kam ein Jäger des Weges und fand den jungen Wolf im Haus der Hexe. Er schlitzte den Wolf mit seinem Messer auf, wollte sein weiches Fell und sein Fleisch.

Dabei befreite er das Rotkäppchen und die böse Hexe aus dem Bauch. Doch das war der Rache den Menschen nicht genug. Nein, das böse Rotkäppchen wollte mehr. Der Wolf hatte sie hinters Licht geführt, er sollte leiden.

Also füllte das Rotkäppchen den Bauch des Wolfs mit Steinen, ließ ihm im Glauben, er hätte die Hexe noch immer im Bauch.

So trat der Wolf hinaus in den Wald, sicher, dass er sein Rudel retten würde… und ertrank kläglich im See, die Steine zu schwer und der Pakt, der Fluch, noch immer in der Magie der Hexe versiegelt.«

Seine Stimme verstummte und er blickte auf die beiden Kinder in ihren Betten. Sie schliefen tief und fest. Sanft küsste er ihre Stirn bevor er aufstand und das Buch wieder ins Regal legte.

»Und die Moral von der Geschicht’, liebe Kinder, Menschen, denen traut man nicht«, flüsterte er leise bevor er die Tür hinter sich schloss.