Foto von einem Lagerfeuer. Funken stoben in den Himmel

Nimmermüde Wanderschaft?  

Text von: Amselgunde
Bild von: Pexels

Sie zieht einen Kohlestift aus einer kleinen Tasche ihres Rucksacks und zeichnet die Umrisse eines fliegenden Paradiesvogels auf die Seite des Planwagens. Als sie fertig ist, steckt sie den Stift wieder ein, wirft ihre blonden Haare über die Schultern und richtet sich auf.
Dann nimmt sie wieder ihren Wanderstab von der linken Hand in die rechte und berührt mit diesem den Wagen. Mit geschlossenen Augen spricht sie im Singsang die folgenden Worte:
„Möge Euer Wagen Euch sicher ans Ziel bringen. Mögen seine Räder lange halten und sein Dach dicht bleiben. Auf dass der Herr der Horizonte über eure Wege wache und diese Reise euch gelinge!“

Dann öffnet sie die Augen wieder und lächelt das ältere Paar, die Besitzerinnen des Wagens, freundlich an. Die beiden Damen falten andächtig ihre Hände, neigen sich erst zum Wagen und dann zur Geweihten. „So sei es!“, antworten sie.


„Habt vielen Dank, Euer Gnaden! Wirklich. Nach den anstrengenden Monden auf dem Feld können wir uns einen kaputten Wagen gar nicht leisten“, erklärt die rechtsstehende der beiden und tätschelt das vordere, rechte Wagenrad.
„Ja, wisst Ihr, Schwester Elstergunde!“, krächzt die andere. „den Wagen haben uns meine Eltern damals nach der Schließung des Travia-Bundes geschenkt. Wie lange ist das nun her, 30 Götterläufe, Merle?“

„35!“, antwortet Merle. „Und die junge Geweihte heißt Amselgunde und nicht Elstergunde, du Strohkopf!“

„Pah! Wenn ich ein Strohkopf bin, bist du eine Zitterhand! Anders kann ich mir die versalzene Suppe der letzten Woche nicht erklären!“

Die beiden Damen grinsen sich an. Sie müssen in ihren späten 50ern sein und scheinen verliebt wie am ersten Tag. Amselgunde wird beim Anblick der beiden warm uns Herz und auch sie muss lächeln.
„So, Strohhüte und Zitteraale, hin oder her. Ihr setzt euch besser wieder auf den Wagen und schaut, dass ihr Gareth noch vor Sonnenuntergang erreicht!“ Sie stemmt die linke Hand in die Hüfte und deutet mit dem Stab in der rechten auf den Kutschbock.

Das sich neckende, liebende Paar lacht, doch sie steigen auf. „Danke vielmals für Euren Segen, Euer Gnaden!“, ruft Käthe und winkt, als sich der vom Ochsen gezogene Wagen allmählich in Bewegung setzt.

Auch Amselgunde winkt den beiden eine Weile nach. Dann greift sie nach dem Rucksack zu ihren Füßen und surrt ihn wieder auf ihrem Rücken fest. „So, dann will auch ich mal wieder einige Meilen machen!“, ruft sie und marschiert federnden Schrittes los.

In der Entfernung kann sie schon die Mauern von Hartsteen ausmachen, doch heute wird sie da nicht mehr ankommen. Nicht schlimm, sie wollte ohnehin unter Phexens Sternenkammer schlafen.

So wird es allmählich Abend und Amselgunde beschließt, am Ufer der Natter ihr Nachtlager zu errichten. Die letzten Strahlen des Tageslichtes nutzt sie, um eifrig Feuerholz zu sammeln und ihr Zelt aufzubauen. Schließlich kann sie endlich ihr Feuer entfachen und mit einem Stück Dörrfleisch und einer Scheibe Trockenbrot in der Hand endlich die Nachtruhe einläuten.

„Tja, ewig jung wie du und deines Gleichen bleiben wir hier unten leider nicht!“, ruft sie aus und betrachtet einige Funken, die zum mittlerweile dunklen Himmel emporsteigen. „Auch meine Knochen werden zu schwer für diese Nimmermüde Wanderschaft! Wer hätte das gedacht?“ Sie schmunzelt. „Erinnerst du dich noch, als ich als junge Akoluthin mit Avitras vor der Al’Anfanischen Garde geflohen bin? Und das nur, weil wir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion drei Sklaven zur Freiheit geholfen haben! Pah!“
Sie beißt in die Scheibe Trockenbrot. „Noch heute gehe ich da nicht gerne hin. Ein schauriger Ort. Ich weiß wirklich nicht, was der Herr Boron an diesen Leuten zu schätzen weiß. Aber… das ist ja auch nicht meine Aufgabe. Stattdessen kartografiere ich bald diesen von allen guten Göttern verlassenen Fluss Nagrach! Weißt du, schlimmer als auf den Bäreninseln kann es nicht mehr werden. Aber trotzdem sollen sich da ein paar üble Gestalten umtreiben…“

Amselgunde schweigt eine Weile und blickt in die Flammen. Dann trinkt sie einen guten Schluck aus ihrem Wasserschlauch. „Nun ja. Du hältst mich seit 20 Jahren vor größerem Unheil fern. Warum solltest du jetzt damit aufhören?“

Eine sanfte Böe kommt auf. Sie scheint die letzte Wärme eines vergangenen Sommers in sich zu tragen. Amselgunde lächelt und denkt an die vielen Sommer, die sie mit ihren Cousins und Cousinen in Punin zugebracht hat. „Morgen ist schon Travia. Wie schnell die Zeit doch vergeht.“ Sie schüttelt den Kopf. „Manchmal weiß ich nicht, ob ihr da oben das absichtlich macht. Ob ihr wollt, dass wir schneller in Borons Hallen einkehren. Wenn das so ist, dann rede doch bitte heute Abend mit der Herrin Rondra, ja? Sie soll mich einfach mit einem Blitz treffen und dem Ganzen ein Ende setzen. Wenn du ein jähes Ende für mich planst, dann bitte dieses. Hier gefällt es mir gut.“

Amselgunde seufzt, streckt sich einmal und lässt sich dann aufs Gras fallen. Der Himmel klart allmählich auf und gibt den Blick auf die vielen kleinen Juwelen in Phexens Schatzkammer frei. Wie oft sie schon dort hinauf gesehen hat. Schon vor ihr haben das tausende Leute über tausende Jahre hinweg getan. Nach ihr werden es noch mindestens genau so viele tun. 
Unweit von ihr weg hört Amselgunde das sachte Plätschern der Natter und sie schließt in warmer Umarmung des Wohlbehagens die Augen. „Heute war ein guter Tag, weißt du. Wenn du es heute wirklich beenden möchtest, bin ich dir nicht böse, Herr Aves.“