Frau mit schwarzem Haar in Bett zwischen Wolken

Eine kleine Mär über die Perspektive …

Text: Palandurwen
Bild: Pexels Foto von Ron Lach
CN: Depression

Eine kleine Mär über die Perspektive …

Immer schon dachte sie sich, dass die Welt doch wohl eine bessere ohne sie wäre. Denn zu was taugte sie schon? Ständig müde, furchtbar ungeschickt und mit einem düsteren Gemüt gesegnet, das alle Menschen um sie herum flüchten ließ. Irgendwie war doch aber alles wirklich schlecht, wirklich grauenvoll. Sah das denn sonst keiner? Anscheinend nicht. Sie fühlte sich wie eine ungehörte Prophetin, die unliebsame Botschaften dem Volk versuchte näherzubringen. Doch keiner wollte sie hören.

Selbst ihre Mutter schien langsam die Geduld mit ihr zu verlieren. Aber ach – ihr fiel an so vielen Tagen selbst das Aufstehen schwer, angesichts dieses Elends um sie herum und in ihr drin. Nichts wollte ihr so gelingen. Und um ehrlich zu sein, versuchte sie es auch schon seit einer Weile nicht mehr. Wozu auch? Sinnlos war es doch eh.

Ihre Schwester hingegen hatte wohl allen Liebreiz, alle Sorglosigkeit und allen Fleiß abbekommen, den der Uterus ihrer gemeinsamen Erzeugerin zusammenkratzen konnte. Damit einher ging allerdings auch eine selige Naivität, die an Nervtöterei kaum zu überbieten war. Stets war alles schön, stets würde alles gut und mit einem Lied auf den Lippen tobte das leichtherzige Ding schon früh durch die Wohnung und erledigte allerlei Dinge – ob sie Not taten oder nicht. 

Und obwohl ihre Mutter mit beiden Sprösslingen nicht gerade zufrieden war, ließ sie ihren Unmut doch in einer zarten Anwallung aus Mitgefühl eher an der Jüngeren aus. Die konnte jedes scharfe Wort nicht verprellen. Bei der Älteren musste alles Gesagte vorher wohl bedacht sein, könnte eine falsche Formulierung sie doch in die endgültige Sinnkrise stürzen, die ein unangenehmes Ende mit viel Bürokratie nach sich ziehen würde. 

Also besser schweigend hinnehmen und versuchen, den ewig rotierenden Wirbelsturm in Form der zweiten Tochter irgendwie im Zaum zu halten. 

Mit ihrem gewohnt unbedachten Übereifer ergriff eben diese Jüngere eines Tages die Stickarbeit der Älteren, um ihr einen Gefallen zu tun und das Stück endlich einmal fertigzustellen. Diese Arbeit war nun aber eine der wenigen, zu denen sich das schwarzhaarige Mädchen von Zeit zu Zeit überhaupt in der Lage fühlte. An ihr zu sitzen, gab ihr das Gefühl, nicht gänzlich überflüssig zu sein. An guten Tagen, an denen die Nadel sie nicht ganz so zutraulich anblinkerte und sie ihren eigenen Fingern vertrauen konnte, nichts Dummes anzustellen, konnte sie sich mit ihr eine Weile lang beschäftigen. Und wenn sie in solchen Momenten nicht aufpasste, stahl sich sogar dreist ein Lächeln auf ihre Lippen. Doch so ungebeten dieses gekommen war, so schnell verscheuchte die Ältere das ungewohnte Muskelzucken auch wieder.  

Nun packte aber die jüngere Schwester in ihrem wahnhaften, unstoppbaren Treiben eben genau in diese heimtückische Nadel und verdarb den weißen Stoff mit roten Flecken. Geschockt – denn das törichte Ding hatte noch nie Blut gesehen – rannte sie zur Mutter und fragte atemlos um Rat.

Ebenfalls geschockt – allerdings eher über ihre Vision der älteren Tochter, in welch Gram sie sich wieder deswegen wälzen würde – scheuchte sie die Jüngere hinters Haus und wies sie barsch an, das Stickwerk loszuwerden. In den alten Brunnen am besten, da verirrte sich die andere nie hin. 

Die Jüngere tat wie ihr geheißen. Zumindest bis zu dem Moment, als sie das trübe Wasser erblickte. So ein Stickwerk war doch auch nur Stoff, da könnte man ihn doch sicher auch waschen! Geblendet von ihrer vermeintlich genialen Idee beugte sie sich weit hinab, zappelte ungeduldig dem kühlen Nass entgegen – und plumpste geräuschvoll hinein. 

Sie dachte, sie müsse husten und prusten, wollte treten und paddeln, schnell wieder an die Oberfläche schwimmen. Doch kaum, dass sie die Augen aufschlug, fand sie sich windend auf grünem Grase wieder. Diesem Umstand keine weitere Sekunde des Wunderns schenkend, entdeckte ihr ewig rastloser Blick im Aufspringen schon ein neues Opfer: ein gemütlich vor sich hin dampfender Ofen. Sein Duft war verführerisch und sie bildete sich sofort ein, die darin garenden Brot sicher herausziehen zu müssen, sie seien gewiss schon fertig. Kaum, dass die Laibe – blass und fad im Übrigen – auf dem Boden lagen, strebte sie bereits auf den Apfelbaum dahinter zu. Einige zeigten schüchtern rote Bäckchen. Zeit sie zu schütteln, sie waren doch reif! Und mit kurzen, kräftigen Stößen entriss sie der armen Laubkrone all die noch viel zu grünen und kleinen Früchte, die ungenießbar munter zu den Broten kullerten. 

Die Jüngere schenkte ihnen aber keines Blickes mehr, schon hatte eine neue Sache ihre Aufmerksamkeit gefangen. Nämlich eine alte Frau, die aus ihrem Fenster schaute, fassungslos über das Chaos, welches das junge, blonde Ding da ohne Sinn und Verstand zu ihren Füßen angerichtet hatte. Zornig schrie sie ihr entgegen: “Den Schaden arbeitest du gefälligst ab, verdammt noch mal!” Woraufhin das Mädchen freudig lächelnd nickte und somit in ihren Dienst trat.

Mit größter Mühe versuchte die Alte, den stumpfen Eifer in irgendeine zielführende Handlung zu kanalisieren. Aber was das Mädel auch anpackte – sie übertrieb einfach alles. Selbst nach dem Bett Aufschütteln flogen die Federn nur so durch das ganze Zimmer, als würde es schneien. Die guten Daunenfedern! Das Bettzeug war hinüber …

Zu allem Übel trällerte die Göre die ganze Zeit in einer kristallglas-zerstörenden Tonhöhe ein seichtes Liedchen vor sich hin. Und immer diese widerlich gute Laune. Selbst morgens schon, bevor die Alte auch nur ihre Nase über die Kaffeetasse strecken konnte, plapperte das alberne Ding fröhlich vor sich hin. 

Wenn das Mädel noch lange bliebe, würden der Alten wohl bald die Ohren bluten. Oder sie machte sich strafbar, weil gewisse andere Hausbewohnerinnen blutleer enden würden. Beides nicht sonderlich angenehme Vorstellungen. Aber wie sollte sie die Kleine wieder loswerden? Da kam ihr ein Gedanke!

Von einem fahrenden Händler kaufte sie ein völlig überteuertes goldenes Kleid, besetzt mit Juwelen und Spitze, der allerletzte Schrei, wie er ihr versicherte. Und wenn der Papst persönlich dieses Stück bestellt hätte, es war ihr egal. Es musste nur aberwitzig prunkvoll genug sein, um das Mädel zu beeindrucken. Und Himmel sei’s gedankt, genau so war es. 

Als “Lohn für ihre treuen Dienste” gab die Alte den scheußlichen Fummel aus, zwängt das junge Ding hinein und konnte sich gerade noch so davon abhalten, ihr einen Tritt in den Allerwertesten zu verpassen, als sie sie durch ihr Tor schob, das sie nach Hause bringen würde. 

Völlig erschöpft schmiss sie die Pforte hinter ihr zu und rutschte an der Innenseite gen Boden. Es würde sicher Wochen dauern, um das Ganze wieder aufzuräumen … Hoffentlich kam so schnell keiner mehr vorbei.

In der Zwischenzeit war es der älteren Tochter natürlich nicht entgangen, dass ihre mühsam zusammengebrachte Handarbeit gemeinsam mit der Schwester verschwunden war. Mit aller Kraft gegen ihre ureigene Schwermut ankämpfend, erfragte sie bei ihrer Mutter den Grund dafür. Diese von so viel Bedrängnis völlig überfordert, rückte sofort mit der Sprache raus. 

Eigenartigerweise empfand die Ältere gar kein so großes Verlustgefühl, wie zunächst vermutet. Und da sie auch kaum Unordnung verursachte, nur wenig aß und ansonsten wie unsichtbar durch die Gänge schlich, fiel auch längst nicht so viel Arbeit auf ihre Mutter zurück, wie erst befürchtet. Böse Zungen könnten sogar behaupten, dass deutlich mehr Ruhe und Aufgeräumtheit in den Tagen herrschte, in denen die beiden Frauen zu zweit waren. 

Welch ungehörige Bitterkeit die Mutter befiel, als ihre jüngere Tochter dann doch plötzlich wieder vor ihr stand – über die Maßen aufgedonnert in einem abstrus üppigen goldenen Kleid – traute sie sich nicht, sich einzugestehen.

Die Ältere hatte da durchaus eine klarere Position. Wieder diese Rastlosigkeit, diesen Lärm und das unangenehme Fiepen, das die Schwester als Gesang verkaufte, ertragen zu müssen? Diese ewige Fröhlichkeit und das immerwährende “Alles-wird-Gut” erdulden? Dann schleppte sie sich doch lieber zum Brunnen und stürzte sich hinein, in der Hoffnung, nie wieder aufzutauchen. 

Gesagt, getan. 

Und weil sie sich einfach fallen ließ, ergeben in ihr Schicksal, landete sie ungewohnt grazil auf ihren beiden Füßen mitten im saftigen, grünen Gras. Verdutzt ihre schwarzen Locken über die Schulter werfend, schaut sie sich einen Moment um.

Da kroch in ihre Nase ein herrlich lockender Duft, der von goldgelber Kruste und saftiger Krume erzählte. Doch der Ofen hatte noch keine rechte Temperatur, wie sie feststellte, als sie langsam die Hand darüber schweben ließ. Sie wusste genau, wie heiß er sein würde, wenn man sich daran verbrennen könnte. Natürlich nur aus Versehen …

Also setzte sie sich davor und wartete geduldig, bis die Backwaren schließlich den rechten Grad erreicht hatten. Dann öffnete sie die Ofentür, klemmte einen Stock dazwischen und ging weiter. 

Um den Apfelbaum machte sie schweren Herzens einen Bogen, denn noch waren die Früchte nicht reif. Und ihr sehnsüchtiger Gedanke, dass ihr einer so richtig mit Bums auf den Kopf fiele und der ganze Mist dann vorbei sei, würde doch ohnehin nicht erfüllt werden … 

Dann kam sie zum Haus der Alten, die sich bereits nervös aus dem Fenster gebeugt hatte und eigentlich grummelnd zu zetern beginnen wollte, als sie die kluge Handlungsweise des Mädchens mit dem pechschwarzen Haar bemerkte. 

Also rief sie zu ihr hinunter: “Hey, sag mir. bist du auch so ein verteufelter Brummkreisel wie die Blonde, die neulich bei mir war?”

“Niemand ist so verteufelt, wie meine Schwester. Ich bin aber möglicherweise verflucht …”

Die Alte grinste.

“Damit kann ich umgehen”, antwortete sie. 

“Schüttelst du Betten auf?”

“Nicht, wenn ich es vermeiden kann.”

Das Grinsen der Alten wurde breiter und zeigte ihre übergroßen Zähne. Doch das Mädchen störte sich nicht daran. Um ehrlich zu sein, machte dieser vermeintliche Makel ihr die eigenartige Frau dort oben überraschend sympathisch. Die wiederum fand Gefallen an der jungen Frau, die sie so erfrischend schlecht gelaunt an sich selbst erinnerte. Ein wenig Zeit mit ihr würde ihr die Langeweile der vergangenen Jahre – abgesehen von des turbulenten Intermezzos vor kurzem – sicherlich vertreiben.

“Komm doch auf eine Tasse Kaffee rein”, rief sie ihr also entgegen, “aber schließ bloß das Tor hinter dir. Ich kann die Andere keinen Moment länger ertragen!”

Die Ältere tat wie ihr geheißen und blieb für immer.