Hexenreigen

Von Gipfelbasilisk

„Ihr wolltet ein Feuer,
nun sollt Ihr eins haben!
Doch dieses Feuer
soll sich an Euren Knochen laben.“

Ich schaue mit wütendem Blick in die Runde der verjüngten Althexen. Rotz läuft mir aus der Nase, ich schnaube und speie die Worte regelrecht aus. Und dann wiederhole ich sie immer und immer wieder. Ich denke dabei an all das Leid, das mir und meinen Schwestern in all den Jahren von den Alten zugefügt wurde. Sie flüstert? Warum flüstert sie? Ich erinnere mich daran, wie es zu all dem kam. Früher, ja früher, war ich ein unschuldiges kleines Mädchen gewesen. Ich versinke in meinen Erinnerungen, schließe die Augen und die Zeit friert ein…

Ich ging mit meinem Bruder in den Wald Pilze sammeln, als es geschah.
„Nicht so weit Hänsel, wir verlaufen uns noch“, rief ich meinem kleinen Bruder hinterher, der wie ein störrischer Esel vor mir weglief.
„Fang mich doch, fang mich doch, du lahme Ente, du bekommst mich doch eh nicht zu fassen.“
Ich sah, wie Hänsel kopflos vor mir wegrannte. Wie in Zeitlupe eilte ich ihm hinterher, wollte ihn aufhalten, aber da war es schon zu spät.
„Hey Gretel, schau mal einer guck, was ich hier gefunden habe!“
Ich wusste es schon damals, meine Eltern hatten mich immer gewarnt. Nun war es zu spät. Hänsel stand direkt vor dem Hexenhaus.
Ich konnte jetzt nur noch auf Milde hoffen. Aber Hänsel knabberte schon an ihrem Haus. Ich wollte ihn zurückreißen, aber da kam schon die Hexe aus dem Haus und griff mit ihren knorrigen Armen nach meinem Bruder. Ihre Worte hallen noch heute in meinen Ohren nach.
„Gretel, schön, dass du und dein Bruder mich endlich einmal besucht. Ich wusste schon lange, dass ihr mich besuchen werdet. Also, du kennst die Regeln: Jeder Bursche, der von meinem Haus isst, gehört mir. Außer seine Schwester erklärt sich bereit, mir zu dienen und bei mir in die Lehre zu gehen.“
Ich nickte damals traurig, ich wollte ihn um alles in der Welt retten. Wie hätte ich wissen sollen, dass sie mich schon damals betrogen hatte. Nun, da ich zugestimmt hatte, hatte sie mich in ihrer Gewalt, aber ihn, ihn ließ sie nicht gehen.

Es folgten Jahre der Knechtschaft. Ich musste ihr dienen und all ihre Wünsche erfüllen. Dann kam mein dreizehnter Geburtstag.
„Gretel, komm herbei“, rief die alte Vettel aus ihrer Hexenkammer heraus. „Es wird Zeit, dass du im Buch unterschreibst und dich einem höheren Meister verpflichtest.“
Ich folgte ihrem Ruf, es hatte ja doch keinen Zweck zu versuchen, sich ihr zu entziehen. Sie hatte meinen Bruder in ihrer Gewalt und konnte ihm schaden. Ich betrat den Raum.
„So Gretel, stelle dich in diesen Kreis und strecke deine Hand aus“, wies sie mich an.
Wie betäubt folgte ich.
Sie griff hinter sich und holte ihr altes Ritualmesser hervor. Sie kam auf mich zu und ich dachte, nun wäre es um mich geschehen. Aber sie schnitt mir nur in die Hand.
„Jetzt unterzeichne“, sie reichte mir einen Federkiel aus Holz.
Ich beäugte das Schreibgerät und nahm es in die Hand. Das Holz war schwarz und kaum berührte ich es, sog es das Blut auf, welches aus der Wunde austrat. Ich unterschrieb. In der Ferne hörte ich ein Lachen und plötzlich wuchsen aus dem Federkiel in meiner Hand Wurzeln. Sie stießen in meinen Zeigefinger und ich schrie auf vor Schmerz. Die Hexe lachte ihr grausames Lachen.
„Der dunkle Lord hat dich wahrlich gesegnet und dich mit der größten Gunst beschenkt, die er zur Verfügung hat. Du bist eine wahrhaft mächtige Hexe. Du wirst nie einen Zaubertrank, einen Zauberstab oder andere materielle Hilfsmittel benötigen, um deine Magie zu wirken.“
Ich blickte auf meine Hand. Mein Zeigefinger war hölzern und schwarz. Der Federkiel hatte sich mit mir verbunden.
Die Hexe lachte bitter. „Zu schade, dass du nie lernen wirst, deine Kräfte einzusetzen, denn ich werde dich nichts lehren.“
„Aber bist du nicht über den Pakt mit dem Dunklen verpflichtet, mich zu lehren, damit ich eines Tages deinen Platz einnehmen kann?“, fragte ich schockiert.
„Ich bin doch nicht lebensmüde! So mächtig wie du bist, würdest du mir sehr bald ein unschönes Ende bereiten. Außerdem weißt du nicht, dass man ihn den großen Lügner nennt? Ja, ich sollte dich lehren, damit du irgendwann meinen Platz einnehmen kannst. Aber ich habe nicht vor zu sterben. Niemals.“
Sie nahm ihr Messer erneut zur Hand und ritzte mir eine neue Wunde ein. Erneut trat Blut aus der Wunde. Nur diesmal trank sie es. Es war so widerlich, das schlürfende, schmatzende Geräusch und ihre feuchten Lippen an meiner Hand, die gierig mein Blut aufsogen. Mit jedem Schluck wurde sie jünger und ich fühlte mich schwächer. Sie kettete mich an die Wand und ging.

Von nun an kam sie jede Woche und wiederholte die Prozedur.
Mir mangelte es an nichts, aber von nun an war ich endgültig eine Gefangene.
Ich hing an der Wand in ihrem Zimmer und spürte, wie von Jahr zu Jahr meine Kräfte größer wurden. Es war das Walpurgis in meinem sechzehnten Lebensjahr, als sich etwas veränderte. Ich hörte ein paar andere Junghexen vor Schmerz wimmern. Den anderen erging es genauso wie mir? Ich ließ meinen Geist wandern und stand an einem großen Feuer. Die alten Hexen tanzten in einem wilden Reigen um das Feuer. Ein paar, scheinbar junge Hexen tanzten unter den Alten und dann sah ich sie, die Hexe, welche mich gefangen hielt. Sie war die jüngste und schönste der Althexen im Reigen.
„Carmilla, wie machst du das nur, dass dein Äußeres so jung aussieht? Bitte verrate mir den Zauber“, fragte eine alte Hexe.
Carmilla, so hieß sie also.
Carmilla beugte sich zu der Alten herab und flüsterte. „Ich verrate es dir, aber was habe ich davon?“, forderte sie gierig.
„Wenn im nächsten Jahr nach einem Jahr der Trauer die neue Zweite ernannt wird, werde ich der alten Blackwood den Vorschlag unterbreiten, dich zu ihrer Stellvertreterin zu machen. Und wer weiß, vielleicht bist du dann in ein paar Jahren die neue Oberste!“
Carmilla nickte der Alten zu und entblößte grinsend ihre widerlichen Fangzähne.
Ich drehte mich angewidert von der Szenerie weg und verließ die Feierlichkeiten schnellen Schrittes. Seit einiger Zeit nutzte sie kein Messer mehr, sondern biss mit diesen Dingern direkt zu, um mein Blut zu saugen.

Ein Jahr verging wie im Fluge, ohne dass sich meine Situation verbesserte. Jede Nacht hörte ich die anderen Junghexen in ihren Gefängnissen leiden und es wurden immer mehr. Mein siebzehnter Geburtstag verging und Walpurgis stand erneut vor der Tür. Auch in dieser Nacht wanderte mein Geist zum Walpurgisfeuer. Erschrocken starrte ich auf den widerlichen Reigen. Es waren kaum noch alte Hexen übrig. Und die Jungen? Das waren keine Hexen mehr und sie waren deutlich in der Überzahl.
„Meine Schwestern, kommt zusammen, es ist nun so weit!“, rief eine der wenigen alten Hexen und versammelte den Reigen um sich.
„Dieses Jahr ist es soweit. Nach einem Jahr der Trauer um unsere liebe verstorbene Schwester – der Dunkle habe sie selig – ernenne ich heute meine neue Zweite“, sie schaute bedächtig in die Runde. Alle klatschten, tuschelten und staunten.
„Ich habe über das Jahr verteilt mit vielen von euch gesprochen und der Name Carmilla von Karnstein ist mir überraschend oft genannt worden. Ich will keine langen Reden schwingen, wenn so viele Schwestern von dir gut denken, dann werde ich mich ihrem Willen beugen. Ich ernenne dich, Carmilla von Karnstein, zur neuen Zweiten. Wie es der Dunkle befohlen hat, steht dir nun ein Wunsch frei.“
Carmilla trat unter dem Applaus der anderen Hexen vor.
Fassungslos beobachtete ich die ganze Szene.
Ihr wurde applaudiert, sie hob eine Hand, schlagartig schwieg die Menge und dann sprach sie.
„Meine Schwestern, oberste Blackwood. Ich freue mich über euer Vertrauen. Ich habe nur einen Wunsch. Ich wünsche, dass alle Hexen, die Jungen wie die Alten, zum nächsten Walpurgisfest zusammenkommen und gemeinsam feiern.“
Plötzlich tuschelten die wenigen Alten miteinander, die am Rande der Gruppe der widernatürlich verjüngten Hexen standen.
Die Oberste hob zum Sprechen an: „Du weißt, dass dies mehr als unüblich ist? Ist das wirklich dein Wunsch?“
Carmilla nickte und die Oberste sprach weiter: „Wie gewünscht, so soll es geschehen. Wir werden das nächste Walpurgis gemeinsam mit den Junghexen feiern.“

Ich wandte mich von der feiernden Gemeinschaft ab und ging meiner Wege. Ich wollte gerade den Festplatz verlassen, als schwarze Nebel aufwallten und der Gehörnte aus ihnen heraus trat. Instinktiv verneigte ich mich vor ihm.
„Stehe auf mein Kind, ich wünsche nicht, dass du vor mir kniest.“
Ich tat wie mir geheißen.
„Dir ist bewusst, was das bedeutet?“, er zeigte auf die Gruppe Tanzender.
„Nein, mein Herr“, antwortete ich mit gesenktem Blick.
„Gretel, schau mich an. Ich habe dir nicht umsonst die größte Ehre zuteil werden lassen, die eine Hexe von mir bekommen kann. Ich will, dass du das aufhältst. Sie,  also Carmilla und ihre Schwestern, dienen mir schon lange nicht mehr.“
„Aber wie soll ich? Sie lehrt mich nichts.“
„Sie lehrt dich genug. Bedenke, wo du gefangen bist!“, sagte er, neigte sich zu mir herab und nahm mich in seine starken Arme. Mein Herz überschlug sich. Ich fühlte seine Wärme, seine Stärke, seine Macht. „Mein armes Kind, ich wollte nicht, dass du so leiden musst, aber ich darf dir nicht mehr helfen. Mit der Unterschrift in meinem Buch gehe auch ich einen Pakt ein. Ich darf keiner Hexe, die in meinem Buch unterschreibt, direktes Leid zufügen. Ich darf sie betrügen, darf Helfer schicken, ich darf diesen aber lediglich die Türe zeigen. Hindurchgehen müssen sie allein. Also, du bist doch ein schlaues Mädchen. Finde einen Weg.“
Ich schaute hinauf zu ihm und genoss die Wärme seines Körpers. Noch nie hatte ein Mann mich so berührt.
Doch dann dachte an die Konsequenzen die mein Handeln auslösen könnte.
„Aber wenn ich aufbegehre, wird sie meinem Bruder Leid zufügen“, sagte ich.
Ich sah Trauer in seinem Blick.
„Den hat sie dir schon vor langer Zeit genommen und dich glauben gemacht, er würde noch leben. Aber in Wirklichkeit aß sie ihn beim nächsten Vollmond, nachdem du bei ihr in die Lehre gingst“, sagte er.
Seine Worte sickerten wie ein Gift, das mich fortan täglich Quälen sollte, in meinen Geist ein. Wut und Wahnsinn, die ich noch nie zuvor gespürt hatte, bahnten sich einen Weg und entluden sich. Ich schrie und tobte.
„So ist es gut. Nutze diese Gefühle, aber lerne sie zu lenken“, sagte er und hielt mich in seinen starken Armen fest, damit ich mich nicht verletzte. „Fürs Erste aber, musst du schlafen“, er beugte sich hinab und gab mir einen feurigen Kuss auf die Stirn. Ich sank in eine tiefe Ohnmacht und wachte erst am nächsten Tag in meinem Gefängnis auf, als Carmilla an mir saugte.

Fortan achtete ich auf jedes Wort, das Carmilla in meiner Gegenwart aussprach, und in der Tat gab sie mehr Preis, als ihr bewusst war. Ein Zauber war einfach gesprochen. Es ging nur darum, sich etwas zu wünschen und es deutlich auszusprechen. Normale Hexen brauchten noch Zauberstäbe, Tränke, Opfer und andere Zutaten, um die Magie in die richtigen Bahnen zu lenken.
Aber wenn ich damals richtig verstanden hatte, würde das für mich nicht gelten. Während ihrer Abwesenheit übte ich im Stillen. Heimlich. Und dann schaffte ich es, bewusst meinen Körper zu verlassen. Ich ging zu dem Buch und schlug es auf. In ihren Notizen fand ich, was ich wissen wollte. Sie wollten uns alle zu Walpurgis opfern, um uns unsere Kräfte endgültig zu entziehen, damit sie ein komplett neues Leben bekamen. Ich musste die anderen Junghexen retten, sie alle. Ich lernte, wann immer ich konnte. Dann kam der Tag der Einladung. Sie hatte grade von mir getrunken, als durch den Kamin ein Brief geflogen kam und sich entfaltete. Er las sich selber vor:

„Sehr geehrte Schwestern,

wie es der Wunsch unserer neuen Zweiten Carmilla von Karnstein ist, lade ich in diesem Jahr alle Jung- und Althexen zu einer gemeinsamen Walpurgisfeier auf den Brocken ein. Bitte findet euch am 30.04 unpünktlich zur Mittagsstund zu den Vorbereitungen ein.

Mit höchst unfreundlichen Grüßen

Oberste Merricat Blackwood“

Carmilla drehte sich zu mir um. „Was für eine Freude Gretel, wir werden bald gemeinsam auf den Brocken feiern.“
Ich rotzte ihr wütend ins Gesicht. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. All die Jahre der Qual und was sie mir angetan hatte, bahnte sich in diesem Moment einen Weg.
„Du Scheusal“, spie ich sie an.
„Ach Gretel, du weißt doch, dass das keinen Zweck hat“, sagte sie und wischte mit ihrem langen Fingernagel die Spucke aus ihrem Gesicht, führte ihn zum Mund und sog daran. „Hmm süß, so viel Wut, aber bei Weitem nicht so viel Magie darin wie in deinem Blut.“ Sie lachte, ich blickte angewidert weg. Noch konnte ich nichts tun. Die Alten waren mächtig, wie ich am Tag zuvor erfahren hatte. Es bräuchte Hexen, die gewillt waren, mir zu helfen. Es brauchte Wut, viel Wut.

Dann kam der heutige Tag, Walpurgis. Ich erwachte auf dem Festplatz.
Wir Junghexen standen gefesselt an Pfählen um die Feuerstelle herum. Die anderen hatten eine solche Angst. Ich konnte ihre Gedanken hören und sehen, was sie sahen. Die verjüngten Hexen standen jeweils vor uns. Eine Stimme donnerte über den Festplatz. Aus dem Blickwinkel einer anderen Junghexe konnte ich sehen, wie die Oberste mit den anderen Althexen den Festplatz betrat und um die Menge herum bis zu Carmilla ging. Sie erhob die Stimme: „Carmilla, was hat das zu bedeuten? Ich dachte, du wolltest mit den Junghexen gemeinsam dieses Jahr feiern? Was soll das hier, beende deinen schlechten Scherz und befreie die Jungen. Sofort!“
Carmilla lachte. „Du hast mir nichts zu befehlen. Heute werde ich Oberste und die Zeit, in der wir alten sterben und diesen jungen Dingern den Weg ebnen, ist endgültig vorbei.“
Die Oberste verstand nicht und mit einem Wimpernschlag stand Carmilla plötzlich hinter ihr und hatte ihr das Messer an die Kehle gelegt. Ich konnte noch hören, wie Carmilla der Obestern ins Ohr flüsterte „Lang lebe die Oberste“ und dann schnitt sie schon ins Fleisch. Blut spritzte mir entgegen und färbte mein weißes Hemd rot. Die Hölle brach los und die Verjüngten warfen sich auf ihre Schwestern, um die Alten, welche den alten Riten noch folgten, auszulöschen.
Der Gehörnte lief am Rande des Festplatzes entlang. Er sprach in meinem Geist: „Warte nicht mehr allzu lange, meine Liebe. Deine Zeit ist gekommen.“
Ich spürte die Macht in mir und riss die Fesseln, die mich banden, los.
Das Chaos hielt nicht lange und die alten Hexen lagen bald am Boden. Carmilla drehte sich triumphierend zu uns um.
Wut stand ihr im Gesicht, als sie sah, dass ich befreit war.
„Hat das kleine Ding heimlich gelernt?“, sagte sie überrascht. „Tja, sind die Katzen aus dem Haus, tanzen die Ratten auf dem Tisch, aber das wird dir nun auch nichts mehr helfen. Also husch, husch zurück an deinen Pfahl, sonst werde ich deinen Bruder nicht schonen.“
„Den hast du doch schon vor Jahren getötet“, spie ich ihr entgegen.
„Oh, hat die kleine Ratte es bemerkt? Hat ja auch lang genug gedauert. Ja, ich habe ihn gegessen. So einen Festtagsbraten darf man sich doch nicht entgehen lassen. Fett gefüttert habe ich ihn und dann im Ofen gebacken. Freiwillig ist das fette Aas hineingekrochen, flehend, dir kein Leid zuzufügen. Wie dumm er doch war. Aber egal, es gibt eh nichts, das du tun kannst. Also husch an deine Stange, wir wollen das Feuer entzünden!“, schrie sie mich an und drückte mit ihrer Macht gegen meinen Körper.
Ich hörte die Worte, spürte die Angst meiner gebundenen Schwestern und schrie. Mit aller Macht und Wut presste ich gegen ihre Magie an. Sie prallte zurück.
Meine Schwestern schauten auf. „Hat sie das gerade wirklich getan?“, hörte ich ihre überraschten Gedanken. Ich sah mich aus verschiedenen Blickwinkeln. Mein schwarzer Zeigefinger deutete auf die Hexen. Meine roten Haare waren entfesselt und schwebten um meinen Kopf herum. Sie sahen aus wie Flammen im untergehenden Sonnenlicht. Ich dachte an alles, das ich heimlich gelernt hatte. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Worte, die tief in mir schlummerten, fanden ihren Weg über meine Lippen. Ich spie sie aus:

„Ihr wolltet ein Feuer,
nun sollt Ihr eins haben!
Doch dieses Feuer
soll sich an Euren Knochen laben.“

Ich wiederholte die Worte immer und immer wieder.
Die Hexen lachten. Carmilla rief belustigt: „Oh, das kleine Vögelchen hat gelernt, einen Fluch zu wirken. Ooooooooh, da habe ich aber Angst.“
Die anderen stimmten nun in ihr Gelächter ein und gingen auf meine Schwestern zu.

Warum zuckt mein Finger? Die Hexen, der Kampf, Walpurgis. Ich denke an all das Leid, das mir und meinen Schwestern in all den Jahren von den Alten zugefügt wurde. Ich erinnere mich daran, wie es zu all dem kam. Früher, ja Früher, war ich ein unschuldiges kleines Mädchen gewesen. Ich erinnere mich an meinen Bruder, meinen süßen kleinen Bruder. Das durfte nicht umsonst gewesen sein. Er wollte, dass ich lebe. Sie dürfen damit nicht durchkommen. All das Leid muss nun ein Ende finden. Ich reiße mich endgültig aus meinen Erinnerungen und die Zeit fließt weiter. Ich drehe mich zu meinen Schwestern und schreie: „Wenn ihr leben wollt, dann denkt an all das Leid, das euch diese Schnepfen zugefügt haben und sprecht mir nach.“
Ich drehe mich wieder zu Carmilla um und sie stutzt. Bis eben hatten sich noch ihre Lippen bewegt. Sie hatte versucht, mich zu verfluchen, in meinen Gedanken einzusperren, mich gefügig zu machen. Ich setze erneut an und rufe:

„Ihr wolltet ein Feuer,
nun sollt Ihr eins haben!
Doch dieses Feuer
soll sich an Euren Knochen laben.“

Ich wiederhole die Worte immer und immer wieder und meine Schwestern stimmen ein. Unsere Worte, unsere Wut und all der Hass verbinden sich zu einem gemeinsamen großen Fluch, der wie eine Welle über die verdutzten Hexen niederschlägt. Sie beginnen zu schreien und ich stecke meine letzte Kraft in diesen Fluch. Ich presse gegen sie und meine Schwestern tun es mir gleich. Ich beobachte Carmilla.
Ihre schöne, junge Haut altert schlagartig, dann beginnt sie zu glühen. Auf ihrer Haut bilden sich Brandblasen. Sie schreit. Die Haut schwärzt sich, wird brüchig und platzt auf. Der Hass in ihren Augen, den sie mir entgegenwirft, ist unbeschreiblich. Die Risse werden immer größer und sie bricht zusammen. Aber da, wo ihr Körper den Boden berührt, zerfällt sie schon zu einem Häufchen Asche. Es wird still auf dem Tanzplatz.

Der Gehörnte erhebt sich in seiner ganzen Pracht aus der Asche der verbrannten Hexen und kommt auf mich zu. „Das hast du gut gemacht, mein Kind“, er umarmt mich und erschöpft lasse ich mich in seine Arme sinken. „Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen“, sagt er sanft und küsst mich auf meine Stirn. Ich spüre, wie neue Kraft in meinen Körper fließt. „Du hast doch noch etwas zu tun. Du bist nun die Oberste einer ganz neuen Generation von Hexen und es wird Zeit, dass du deine Schwestern befreist und in ein neues Zeitalter führst.”
„Und was ist mit dir?“, frage ich müde. Ich wollte in seinen starken Armen versinken. Er lachte und gab mir einen weiteren Kuss.
„Ich werde gehen und über euch wachen. Du weißt doch, ich darf euch nur die Tür zeigen. Hindurchgehen, müsst ihr allein.“