Kairons Ende oder Anfang?

Ein neuer Tag beginnt. Noch ist die Sonne nicht vollständig aufgegangen. Ich liebe diese Zeit. Ich bin grade von meinen nächtlichen Aktivitäten zurückgekehrt. Mein Jahrmarktswagen steht zurzeit in der Nähe eines kleinen Dorfes an einem See. Ich atme die frische Morgenluft tief ein und beobachte von den Treppen meines Wagens aus, wie der Morgentau in der Sonne glitzert. Damals hätte ich nie gedacht, dass ich einmal ein so ruhiges Leben haben würde.
Ich betrete den Wagen, nachdem ich den Schmutz der letzten Nacht abgewaschen habe, schaue ich in den Spiegel, der an der Rückwand meines Wagens hängt. Seit dem Abenteuer von damals bin ich um keinen Tag gealtert. Nur einige Narben und meine Tätowierungen erinnern mich an diese Zeit. Ich muss lächeln. Ein damaliger Begleiter hatte viele Tätowierungen. Das war eine Kunst, die mich seitdem faszinierte, und auf meine erste Tätowierung folgten bald viele weitere. Ich koche mir einen Tee aus den Kräutern, die über meinem Ofen trocknen.
Irgendetwas liegt heute in der Luft, ich habe schon lange nicht mehr so intensiv an die Zeit von damals gedacht wie heute. Aber vielleicht liegt das daran, dass ich gestern mein neues Kartendeck fertiggestellt habe, es zeigt meine Gefährten aus früheren Abenteuern.
Nach den Ereignissen sahen wir uns alle noch ein einziges Mal wieder. Wir wurden vom ältesten, Basidia, in die Nimmerlichthöhle geladen, um an einem Ritual am Pilz Yggmorgus, dem größten aller Pilze, teilzunehmen. Wir trafen uns in Blingdenstone bei Jimjar, und es fühlte sich an, als ob kein Tag vergangen war, nachdem wir uns damals trennten. Die gleichen alten Kabbeleien und Scherze prägten den Weg zu den Mykoniden. Oth’Yekub, der Pilz der mich, seit diesen Tagen begleitet, war für seine Verhältnisse sehr glücklich darüber, seinen „Vater“ Rumperdump endlich einmal wiederzusehen. Zumindest deute ich es so, denn er konnte nicht anders, als ständig seine Sporen in der Luft zu verteilen. Rumpadump war derweil mit Theophil dem Barbaren eine Zeit lang gereist. Der Grund unserer erneuten Reise ins Underdark hingegen war uns nicht bekannt.
Bald kamen wir also in der Nimmerlichthöhle an. Alle, die wir während dieser Zeit kennengelernt hatten, waren da. Am ersten Abend durften wir, wie damals, an einem Ritual der Mykoniden teilnehmen. Die Luft war geschwängert von ihren Sporen, und wir teilten telepathisch die Erinnerungen an die vergangene Zeit. Die dunkleren Teile meiner Geschichte noch einmal so vor Augen geführt zu bekommen war irgendwie tröstlich für mich, und ich glaube, das war der Zeitpunkt, an dem ich endgültig den Pakt, den ich schließen musste, akzeptierte. Am nächsten Tag gingen wir dann alle zum Pilz Yggmorgus. Wir standen direkt unter dem Riesenpilz. Der Älteste begann telepathisch zu sprechen. „Meine Kinder, meine Freunde. Wie alles Leben mit der Zeit vergeht und zu Humus wird, so ist meine Zeit nun gekommen. Bald werde ich diese Welt verlassen und den großen Pilz nähren. Aber trauert nicht um mich, sondern feiert das Leben. Denn aus allem was vergeht, entsteht immer etwas Neues. Stuhl, der die Erlebnisse von damals, mit erlebte, und sich danach um unser Volk mit großer Aufopferung kümmerte, wird meinen Platz als Ältester einnehmen.“ Ich freute mich für den kleinen Mykoniden, ich erinnerte mich wie wir Ihn damals zum ersten Mal in Gefangenschaft trafen, schüchtern, klein, nicht mehr als ein Kissen. Heute war er zu einem großen, stattlichen Pilz herangewachsen. Der Älteste nahm seinen Stab, und überreichte ihn Stuhl. Plötzlich war die Luft von den Sporen der Pilze so geschwängert, wie ich es zuvor nie erlebte. Eine Welle der Freude überkam mich.
Am Abend fand ich den Ältesten alleine am Fuße Yggmorgus. Er sah schwach aus, und es war kein Vergleich zu der Stärke, welche er Stunden zuvor bei seiner Rede ausstrahlte. „Kann ich etwas für dich tun?“, fragte ich den Mykoniden. „Nein, das kannst du nicht. Morgen, wenn ihr alle wach werdet, werde ich vergangen sein. Aber ich kann noch etwas für dich tun“, sprach der Mykonide müde. „Ich habe in deinen Erinnerungen gesehen wie du den Pakt damals geschlossen hast. Du fragst dich bis heute was der Preis war, den du zahlen musstest. Ich kann dir sagen was der Preis war, wenn du es wünscht.“ Schockiert setzte ich mich neben den Alten. Ich brauchte ihm keine Antwort geben. „Hast du es nicht schon selbst bemerkt? Seit du uns damals verlassen hast bist du keinen Tag gealtert und das wirst du auch nicht. Firena nahm dir deine Sterblichkeit. Du wirst nie zu Humus werden. Du wirst mit ansehen müssen, wie alles was du liebst vergeht, ohne das dir selbst die Gnade gegeben wird, selber zu vergehen. Du wirst ihr auf ewig dienen müssen. Es tut mir so leid.“ Das waren seine letzten Worte. Noch heute spüre ich den Schock, den ich erlitt als mir klar wurde was das bedeutet. Ich war die Tage danach wie betäubt, ich hab an allen Festivitäten teilgenommen, aber sie nur wie durch einen Schleier gesehen. Bevor ich die Nimmerlichtgrotte endgültig verließ musste ich noch einmal die Stelle besuchen, die Basidia für seine letzte Ruhe ausgesucht hatte. Inzwischen spross ein kleiner Pilz an dieser Stelle und schaute mich mit großen Augen an. „Wir werden uns wiedersehen, Danke.“, war das letzte was ich sagte.
Ein plötzlicher Windstoß erfasst die Kristalle, die ähnlich einem Windspiel an meinem Fenster hängen, und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich habe die Kristalle so verzaubert, dass sie mir Kundschaft ankündigen, ich bereitete also meinen Wagen vor.
Oth’Yekub hat sich inzwischen in die dunkle, kühle Erde unter meinem Wagen verzogen. Vor Sonnenuntergang würde er nicht mehr hochkommen. Die Sonne macht ihm seit einiger Zeit immer mehr zu schaffen.
Meine Schlange Vh‘utisss windet sich langsam aus dem Deckengebälk und lässt sich sanft auf meinen Schultern nieder. Die Schlange würde mich noch lange begleiten. Die Zeit bei den Riesen hat ihr Leben unnatürlich verlängert. Ich streiche ihr sanft über den Kopf und gebe ihr einen Snack. Sie verschlingt diesen und macht es sich dann in der Sonne am Fenster gemütlich.
Am Nachmittag sitzt dann mein Kunde mir gegenüber, und ich erkläre ihm, wie ich beim Legen vorgehe. Er zieht den Maskierten aus dem Kartendeck. Ich schaue auf das Bild, und sehe den Gefährten aus vergangenen Zeiten, welchen ich so schmerzlich vermisse. Ich kann nicht verhindern, dass die Erinnerungen an diese Zeit vor meinem inneren Auge aufblitzen.
Vor all den Ereignissen war ich durch die Wälder gezogen, und lebte ein Leben abgeschieden von jeglicher Zivilisation. Aber dann kam das große Abenteuer und ich musste lernen anderen zu vertrauen. Ich wurde von dem Volk entführt, welches meine Eltern tötete.
In Gefangenschaft lernte ich einen Mann kennen, der zu genau diesem Volk gehörte. Sein Hirn war vernebelt von einer Tat, an die er sich nicht erinnern konnte. Trotzdem wuchsen wir ein Stück weit zusammen und er war ein geschätzter Begleiter. Sein Blick auf die Welt war ein völlig anderer als meiner und das faszinierte mich. Er hatte Angst davor, wie sein Leben nach diesem Abenteuer weiter gehen würde, und ich hätte ihm so gerne eine Welt gezeigt, die ganz anders ist, als die seine war. Leider mussten wir viel zu spät feststellen, dass sein Hirn von einer sehr realen Krankheit vernebelt worden war, und so sollte er das Ende dieses Abenteuers, wie viele andere meiner damaligen Reisegefährten, nicht mehr miterleben.
Eine Träne läuft mir über die Wange und erst das Räuspern meines Kunden holt mich in die Gegenwart zurück. Ich wische mir die Träne aus dem Gesicht und beginne mit der Deutung.
„Der Maskierte bedeutet, dass etwas das bisher verdeckt ist, sich Ihnen bald offenbaren wird. Sie werden eine Entscheidung treffen müssen, die vieles in ihrem bisherigen Leben auf den Kopf stellen wird.“
Der Mann verzieht keine Miene, und ich bedeute ihm, eine weitere Karte zu ziehen, dann spüre ich plötzlich, wie mein Kristall warm wird. Nicht jetzt, denke ich. Immer wenn ich grade am Arbeiten bin. Meine Herrin, versucht Kontakt zu mir aufzunehmen.
In meinem Blut fließt das Blut von Teufeln. Dennoch bin ich nicht böse, bis heute kann ich mir meine Menschlichkeit bewahren. Die damaligen Umstände zwangen mich dazu, einen Pakt mit einem Teufel abzuschließen. Seitdem ist an meinem Horn ein goldenes Sklavenband, an welchem ein roter Kristall hängt.
Ab und an fordert meine Herrin Firena kleine Gefallen ein. Aber im Vergleich zu anderen meiner Art habe ich Glück. Meine Herrin fordert nichts, was ich nicht sowieso bereit bin, zu geben, und es gefällt mir, nachts in ihren Etablissements zu dienen. Diese Dienste sorgen immerhin dafür, dass ich tagsüber meine Freiheit genießen kann. Nur selten nimmt sie direkten Kontakt zu mir auf, und das bedeutet in der Regel nie etwas Gutes.
Die Zeit friert förmlich vor meinen Augen ein, und mein Kunde erstarrt in seiner Bewegung.
„Du bist traurig, mein Kind.“, gurrt eine Stimme in meinem Kopf. „Wie kann ich dich aufheitern?“
Ich habe gelernt, dass sie durchaus Interesse an meinem Leben hat, und dies nicht nur vortäuscht, aber nur weil mein Leid, ihr Lohn ist. „Ich musste grade an jemanden zurückdenken, den ich damals, bevor ich den Pakt mit dir schloss, verloren habe.“ Ihre Stimme klingt amüsiert „Ich werde nie verstehen wie ihr Sterblichen so lange euren Verlorenen hinterher trauern könnt. Zumal du ja auch kein Sterblicher mehr bist, seitdem du dich mir verschrieben hast. Und du weißt, dass ich mich ungern wiederhole. Also, was kann ich tun um dich aufzuheitern?“ Wut steigt in mir auf und ebbt wieder ab. Kann sie nicht einfach sagen, was sie von mir will? „Da kannst du nichts tun, für uns Sterbliche gehört es dazu traurig zu sein. Dank dir, bin ich dazu verdammt zuzusehen, wie alle die ich liebe langsam vergehen. Also nimm mir nicht noch das bisschen an Menschlichkeit, was ich mir bis heute bewahren konnte.“ Ich atme tief durch. „Du hast mich aber bestimmt nicht kontaktiert, weil du besorgt um mich bist?“ „Dass du auch immer alles so negativ sehen musst? Aber du hast recht, du musst mir dankbar sein für das Geschenk, dass ich dir damals gemacht habe.“ Gurrt sie, „Und ich wünsche, dass du mir erneut deine Dankbarkeit beweist, indem du deinen Wagen packst, und dich auf die Suche nach jemandem machst, der seinen Pakt gebrochen hat. Ich kann ihn nicht finden, er muss sein Band entfernt haben und du wirst dafür sorgen, dass das verlorene Schäfchen seinen Preis bezahlt. Wie du dabei vorgehst ist deine Sache, solange ich seine Seele bekomme.“ Dann zeigt sie mir das Bild von dem Mann, den sie sucht, und sagt den Namen der Region, in der meine Suche beginnen soll. Anschließend zieht sie sich ohne ein weiteres Wort aus meinem Geist zurück.
Die Zeit fließt weiter, und etwas abwesend sehe ich, wie mein Kunde die Karte umdreht. Das Bild zeigt einen dunkelhäutigen Elfen mit schwarzen Augen, den Auslöser all der damaligen Ereignisse. Mein Kunde legt die Karte unter die Karte des Maskierten. Ich deute „Die Marionette. Sie bedeutet, dass jemand anderes im Hintergrund die Fäden zieht. Sie können die Ereignisse nur zu ihren Gunsten wenden, wenn der Strippenzieher offenbart wird. In Verbindung zum Maskierten kann das heißen, dass die Ereignisse, welche zur Offenlegung des Strippenziehers führen werden, schon längst angestoßen worden sind. Sie müssen sich aber nicht Ihrem Schicksal ergeben, ihre Entscheidungen können dazu führen, dass sich das Blatt wendet.“
Ich beende die Sitzung und setze mich, wie heute Morgen, auf die Stufen des Jahrmarktwagens. Die Sonne geht langsam unter, und der Himmel färbt sich rot. Was mich wohl auf meinen zukünftigen Wegen erwarten wird? Ich ziehe eine Karte für mich, „der Nebel“. Ich höre das Lachen meiner Herrin. „War ja klar, dass du es mir nicht leicht machen wirst.“ Ich höre in meinem Kopf ein Geräusch, als ob sie mir einen Kuss zuwirft. „Fang lieber an deinen Wagen zu packen, du musst noch heute Nacht losfahren.“ „Sehr wohl“, antworte ich kurz angebunden, denn nach einer langen Diskussion ist mir jetzt grade einfach nicht.
Während ich den Wagen vorbereite, bricht die Nacht herein. Ich setze mich auf den Kutschbock, und nehme die Zügel in die Hand. Der Pilz Oth’Yekub öffnet das kleine Fenster des Jahrmarktwagens. Er kann gerade so über den Fensterrahmen zu mir schauen. Ich blicke kurz über die Schulter zu ihm, und mir wird bewusst, wie viel Zeit vergangen ist, seit dem Abenteuer von damals. Was wohl aus den anderen geworden ist? Der Elf wird bestimmt noch leben. Oth’Yekub reißt mich aus meinen Gedanken. „Neues Abenteuer?“ fragt der Pilz telepathisch. „Ja“ antworte ich lächelnd. Ich fasse an meinen Kristall und lasse die Magie durch mich hindurch in die Zügel fließen. Sie beginnen rot zu leuchten und zwei schwarze Hengste mit feurigem Blick erscheinen vor meinem Wagen. Ich treibe sie an. Jemand ist ihr also entwischt, vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung. Andererseits, diese Kräfte haben auch ihre Vorteile. Lachend fahre ich in die Nacht.

Das Let’s Read zum Text findet Ihr hier: https://youtu.be/8mYmww00Fwo