Ein Koala hängt auf einem Ast

Koalas, Kängurus und Schneegestöber

Text von: StefShepardRox
Beitragsbild von: AdobeStock_403705124
CN: Spinnen

Es war ein kleines Ding, das da langsam auf dem Arm herauf kroch. Was war es? Rose spürte die kleinen tippelnden Schritte des Wesens. Es war nicht unangenehm, aber kitzelte fürchterlich. Kichernd hob sie den Arm, um es zu betrachten. Das Wesen hibbelte aufgeregt vor ihrer Nase auf und ab. Rose zählte acht Beine, wobei eines davon nachgezogen wurde. Eine Spinne. Aber keine, die sie kannte, und Rose kannte richtig viele. Hier in Australien wimmelte es geradezu von ihnen. Schon früh hatte man ihr beigebracht, vor welchen sie sich in Acht nehmen musste.
Generell galt: Klein ist gemein und bunt ist ungesund.
Aber so eine, hatte sie noch nie gesehen. Klein und flauschig, mit acht Augen. Soweit so gewöhnlich. Aber die Farben waren toll. Im Gegensatz zu ihrer dunklen Haut war das Haar der Spinne blasslila, mit einem weißen Muster auf dem Rücken, das aussah, wie eine Schneeflocke. So eine, kannte sie nicht.
„Hihi, du siehst niedlich aus! Ich nenne dich Flöckchen.“
„Nein, Flöckchen ist meine Schwester. Ich bin Sven.“
Rose starrte das winzige Wesen irritiert an. Hatte es gerade gesprochen?
„Sven?“
„Ja. Sven Frostfuß aus Holleheim.“
„Holleheim? Wo ist das denn?“
„Oben in den Wolken, bei Frau Holle.“
„Frau Holle? Die aus dem Märchen?“
„Ja, genau die. Meisterin Holle. Ich arbeite für sie.“
„Spinnen arbeiten für Frau Holle? Davon steht aber nichts in meinem Märchenbuch.“
„Ja, wir Helfer finden kaum Beachtung. Außer die vom Weihnachtsmann. Elfen müssen sich auch immer ins Rampenlicht drängen.“
Rose tippte sich nachdenklich mit dem Finger der freien Hand an die Unterlippe.
„Die Rentiere kennt man auch!“
„Ja, Rentiere. Die finden die Menschen niedlich. Die PR-Abteilung meint, vor uns Spinnen haben die Leute nur Angst.“
„PR? Was ist das?“
„Ach, das sind so aufgeblasene Anzugträger die Werbung für Märchen machen.“
„Hm. Aber die meisten Spinnen tun doch nix. Die großen Huntsman Spinnen fressen die fiesen Spinnen, hat Papa gesagt.“
„Ja. Die sind von der Spinnenpolizei. Jedenfalls hat unsere Gewerkschaft Beschwerde eingelegt.“
„Gewerkschaft?“ Rose sah ihn verständnislos an.
„Das sind die, die für uns Arbeiter eintreten, für mehr Geld etwa oder besseres Essen in der Kantine.“
„Oh. Verstehe. Und habt ihr jetzt besseres Essen?“
„Ähm, ja. Das ist lecker. Aber es ging dabei eher um die Wertschätzung unserer Arbeit, nicht um den Geschmack.“
„Was genau macht ihr denn?“
„Na, den Schnee!“
„Den Schnee? Ich dachte, das sind die Federn aus Frau Holles Kissen?“
„Ach wo. Holle rupft doch nicht so viele Hühner. Wir sind tierlieb. Außerdem sind die nicht gut für Allergiker. Da müssten die ja ständig niesen, wenns schneit.“
„Oh. Stimmt.“ Rose blickte nachdenklich zum Himmel empor. Kein Wölkchen war zu sehen. Ihre Eltern hatten sie in den Schatten geschoben, damit sie etwas frische Luft abbekam.
„Also, wir Eisspinner:innen, spinnen Schneeflocken und weil Holles Häuschen nicht so groß ist, legen wir ihr die auf die Bettdecke. Wenn sie die dann aufschüttelt, dann schneit es bei euch.“
„Ohhh! Das ist ja toll!“ Rose strahlte. Die Vorstellung gefiel ihr. „Hier in Australien schneit es leider nie.“
„Ja, das hab ich auch gehört. Wollte mir das mal ansehen. Feldforschung betreiben. Damit wir Schnee spinnen können, der bei euch auch funktioniert.“
„Normaler Schnee funktioniert hier nicht, weils so warm ist oder?“
„Genau. Leider wird durch die Erderwärmung das Klima überall wärmer und wir müssen uns anpassen. Ein neues Muster finden, dass die Wärme besser aushält.“
„Oh, das wäre ja toll! Ich würde so gerne mal Schnee sehen. Ich kenn ihn nur aus dem Fernsehen.“
„Armes Kind. Du willst bestimmt auch Skifahren hm? Wie heißt du eigentlich?“
„Rose, und ich kann nicht Skifahren. Ich kann aus diesem blöden Rollstuhl nicht raus, weil meine Beine nicht funktionieren.“
„Ach herrje. Ich hab auch ein kaputtes Beinchen. Das tut mir leid. Hm… aber du könntest Schlittenfahren!“
Rose legte den Kopf schief und überlegte. „Ja. Das müsste gehen. Wenn ich Schnee hätte.“
Sven hob nachdenklich seine beiden Vorderbeinchen und rieb sie aneinander.
„Wenn du mir hilfst, ein Muster zu finden, dass die Wärme aushält, dann helf ich dir.“
„Ja, klar. Was muss ich denn tun?“
„Die gute Fee hat mir erzählt, dass jeder etwas richtig gut kann. Was kannst du denn?“
Rose kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Meine Oma sagt, ich kann richtig gut zeichnen.“
„Perfekt! Dann zeichnest du mir ganz viele Schneeflocken. Ihr kleinen Menschen habt noch etwas von der natürlichen Magie in euch, die die ganze Welt umgibt. Leider verlernt ihr das, wenn ihr groß werdet. Ich glaube, ihr nennt das: Vernunft.“
„Das ist ja doof.“
„Ja. Ich bin mir sicher, dass Vernunft nicht immer der beste Weg ist. Also, hast du wo eine Werkstatt?“
„Ich hab meinen Zeichenblock und die Stifte im Zimmer.“
Sven trippelte aufgeregt auf ihrem Arm umher. „Na dann, auf gehts!“

Rose rollte zurück ins Haus und gemeinsam machten sie sich ans Werk. Eifrig skizzierte sie Schneeflocke um Schneeflocke. Dann war Sven an der Reihe. Geschickt wob er mit drei unverletzten Beinchen die Eisseide zu dem Muster, das Rose gezeichnet hatte. Sorgsam reihte er sie neben die jeweilige Skizze und Rose stoppte die Zeit, die es brauchte, bis die winzigen Eiskunstwerke schmolzen.
Die Muster, die am längsten der Wärme standhielten, wurden zu neuen Mustern kombiniert.
Als Roses Vater schließlich zum Abendessen rief, war es soweit. Die letzte Flocke die Sven gewoben hatte, schmolz nicht! Fasziniert starrten sie beide darauf. „
„Rose, du bist ein Genie! Du hast das richtige Muster gefunden!“
„Rooose! Essen! Mama ist auch schon von der Arbeit zurück!“ Die Stimme ihres Vaters wurde ungeduldig. Er war sehr stolz auf seine Kochkünste und es war ihm ein großes Anliegen, dass das Essen fertig war, wenn seine Frau von der Arbeit in der Werkstatt nach Hause kam.
„Ich muss Essen, bis gleich!“ Rose rollte ins Esszimmer und Sven rief ihr hinterher: „Lass dir Zeit und gönn dir doppelt Nachtisch. Hast du dir verdient!“

Kaum war die Tür hinter Rose zugefallen, schob Sven seine beiden Kiefertaser in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, der für menschliche Ohren nicht hörbar war. Er klammerte sich an die Zeichnung der siegreichen Schneeflocke, begann zu leuchten und verschwand mitsamt der Skizze.
Oben in den Wolken ging es nun heiß her. Sven trommelte alle Eisspinner:innen zusammen und rief sogar die Weihnachtselfen am Nordpol an, die das nächste Rentier-Taxi nahmen und nach Holleheim flogen. Bald schon wurde überall gesponnen, gesägt, geschraubt, poliert und gewachst. Dutzende Hände und noch viel, viel mehr Beine machten so einen Radau im Haus, dass Frau Holle die Petition zum Klimaschutz lieber schon jetzt statt erst am nächsten Tag, beim Weihnachtsmann vorbeibrachte. Der alte Kauz sollte endlich aufhören, Kreuzfahrten zu verschenken.

Rose zog die Schiebetür zu ihrem Zimmer auf und rollte aufgeregt zu ihrem Schreibtisch. „Sven! Ich bin wieder da!“, rief sie, doch kein Sven war zu sehen.
„Sven?“
Immer noch keine Antwort. Auch die Skizze war verschwunden. Sie ließ die Schultern hängen. Ihr kleiner Freund war fort. Hoffentlich hatte sie ihm wenigstens helfen können. Zu den Klimademos durfte sie nicht. Es sei zu gefährlich für ein junges Mädchen im Rollstuhl, hatten ihre Eltern gesagt. Auch wenn ihre Klassenkameradinnen dabei waren. Vielleicht hatte sie wenigstens so einen Beitrag leisten können. Mit dem Gefühl etwas Gutes getan zu haben, schlief sie später ein. Das Buch, dass sie aktuell zum Einschlafen las, noch auf der Brust.
Ihre Eltern sahen später nochmal nach ihr und machten lächelnd das Licht aus, ehe auch sie zu Bett gingen. Kaum war das Licht im elterlichen Schlafzimmer erloschen, trommelte es leise klackend an Roses Fenster.
Klack klack klack. „Pssst! Rose! Wach auf!“
Rose schrak auf. Das Buch rutschte von ihrer Brust und sie sah sich verwirrt um.
„Hier, am Fenster!“
Rose setzte sich auf und schob mit den Händen ihre Beine über die Bettkante. Mit geübtem Griff legte sie die Rechte auf den Hilfsgriff ihres Rollstuhls, den ihre Mutter ihr an den Rollstuhl geschweißt hatte, stemmte die linke Faust in die Matratze und wuchtete sich hoch. Geschickt stützte sie sich auf ihre starken Arme, drehte sich und wuchtete ihren Körper in den Rollstuhl. Sie fuhr zum Fenster und öffnete es.
„Hallo?“
„Hey, ich bins, Sven.“
Rose streckte die Hand aus und die Frostspinne kletterte darauf.
„Da bist du ja wieder! Ich dachte schon, du wärst weg ohne tschüss zu sagen.“
„Natürlich nicht. Ich hab eine Überraschung für dich vorbereitet. Komm mit raus vors Haus.“
„Wie… Jetzt? In der Nacht?“
„Ja, jetzt. Komm!“
„Im Pyjama?“
„Ja. Sieht doch keiner. Schlafen alle. Jetzt husch!“

Rose griff das Antriebsrad und rollte, so leise sie konnte, aus dem Zimmer und nach Draußen. So lange sie nirgends anstreifte, sorgten die Gummiräder des Rollstuhls dafür, dass sie sich lautlos wie ein Ninja durch das Haus bewegen konnte. Sie drückte den Schalter der Haustür und diese schwang mit einem leisen elektronischen Zischen auf. Draußen war es finster. Es mussten Wolken aufgezogen sein, denn nicht mal die Sterne waren zu sehen.
„Und jetzt?“, fragte sie und sah zu der lila Spinne, die sich mittlerweile auf ihrem Oberschenkel niedergelassen hatte.
„Roll auf die Einfahrt raus, zieh die Bremsen an und mach die Augen zu, bis ich sage, dass du sie wieder öffnen darfst.“
Rose runzelte die Stirn. Ob das schlau war? Aber nun war sie neugierig und rollte die Rampe runter. Vor der Garage hielt sie an, zog die Bremsen fest und schloss die Augen.
„Bereit. Und jetzt?“
„Warten!“
„Wahhh!“ Ihr Rollstuhl begann zu ruckeln und schien den Bodenkontakt zu verlieren. Rose riss die Augen auf.
„Augen wieder zu Fräulein. Dir passiert nix. Gewerkschaftsehrenwort,“ ertönte die beruhigende Stimme von Sven.
Zögerlich schloss Rose wieder die Augen.
Es ruckelte und zuckelte weiter und sie hörte das Surren einer Bohrmaschine.
„Was machst du da?“
„Siehst du gleich!“
Wenige Minuten und eine gefühlte Unendlichkeit später, war es ruhig und der Rollstuhl stand wieder fest auf dem Boden.
„Kannst die Augen jetzt aufmachen.“
Rose tat wie ihr geheißen und sah … nichts. Es war immer noch dunkel.
„Auf gehts Leute!“
Eine scharfe Windböe kam auf und blies die Wolken so schnell fort, wie Rose es noch nie zuvor gesehen hatte. Der Mond stand voll am Himmel und tauchte alles in ein silbernes Licht.
„Meisterin Holle, an die Decke, fertig… Los!“
Wie von Zauberhand begannen feine Eiskristalle vom Himmel zu schweben, wuchsen zu einem richtigen Schneegestöber heran und verwandelten den Garten im Nu in eine richtige Winterlandschaft, wie Rose sie aus dem Fernsehen kannte. Wie gebannt sah sie zu, wie die Flocken gen Boden rieselten und bald schon mehrere Zentimeter hoch den Boden bedeckten.
Es ruckte und der Rollstuhl glitt nach vorne.
Rose zuckte zusammen und blickte zu Boden. Dort fanden sich Kufen. Richtige Kufen. Ihr Rollstuhl war auf einen improvisierten Schlitten geschraubt worden und überall an den Speichen der Räder saßen hunderte Frostspinnen und winkten ihr freudig zu.
„Darf ich vorstellen: Meine Arbeitskollegen und das dort vor dem Schlitten, ist Donner. Sie hat sich bereit erklärt, dich durch die Gegend zu ziehen!“ Das Rentier, das vor den Schlitten gespannt war, zwinkerte ihr zu und ließ die Glöckchen an ihrem Zaumzeug bimmeln. Sie gewannen an Fahrt, vor ihnen sorgte eine Schneesturmwolke für eine Schneefahrbahn und sie glitten vorbei an Koalabären und Kängurus, Wombats und verwirrten Schnabeltieren.
Später brachte Sven sie zurück. „Danke für deine Hilfe Rose. Ich hoffe du hattest spaß. Wir sehn uns!“ Tausende Beinchen winkten ihr zum Abschied zu, bis die automatische Tür sich mit einem leisen Klicken schloss.

Am nächsten Morgen erwachte sie, so glücklich und ausgeruht, wie lange nicht mehr. Sie blieb noch ein Weilchen liegen und überlegte, ob das wirklich passiert war oder sie nur geträumt hatte. Bestimmt hatte sie das. Sprechende Frostspinnen, Rentiere und Schlittenfahrten in Australien. Sie blickte zum Fenster. Der Baum war grün und dann sah Rose die Skizze, die sie gemacht hatte, mit feinen Spinnweben an die Scheibe geheftet und lächelte.