Der Clickbait Exorzismus

Ily erwachte. Wie fast jede Nacht neuerdings, um punkt drei Uhr Morgens. Dey versuchte deren Gedanken zu ordnen und benötigte einen Moment, um durch den trägen Schleier des Schlafes zu kommen, aus dem dey soeben gerissen worden war. Hatte dey schlecht geträumt? Deren Gedächtnis spuckte keinerlei Albtraumdaten aus. Das war es also nicht, also lauschte dey in die Stille. Zwei Zimmer weiter hörte dey das boom-chack-bang des Fernsehers. Deren Freundin war offenbar wie immer vor dem TV eingeschlafen. Doch da war noch ein Geräusch. Ganz leise, ein Kratzen an der Wand. Derens Wand! Hier, direkt im Zimmer.
Ily sprang auf. Oder besser: dey versuchte aufzuspringen. Verhedderte sich jedoch mit in der Gewichtsdecke, die sich unnachgiebig um deren Knöchel schlang und ihren Fuß im Bett festhielt, während der Rest ihres Körpers über den Rand des Bettes kippte.
WUMMS
Ily kreischte. “Kim! Hilfe! Es hat mich!”
Aus dem Wohnzimmer kam folgende Antwort: “Was zum…” Lautes Scheppern übertönte die Glotze “Scheiß Glastisch!”
Ily strampelte sich frei, robbte panisch in Richtung des rettenden Lichtschlitzes der Schlafzimmertür. Fast hatte sie es geschafft.
Polternde Schritte auf dem Gang.
Dey streckte ihre Hand nach dem Lichtschalter aus und wurde umgeworfen.
Die Tür wurde aufgerissen, knallte mit dumpfem DONK gegen einen Dickschädel und hielt inne.
“Ily?”
“Au! Wer sonst?” Dey hielt sich benommen die pochende Stirn, wurde der Situation wieder gewahr und machte einen halb aufrechten, halb krabbelnden Satz nach vorne, hinter Kims Beine – und spähte zurück ins Zimmer.
“Da ist jemand! Ein Geräusch hat mich geweckt und dann hat mich wer am Fuß gepackt.”
Das Rascheln von Stoff war zu hören, als Kim langsam den Regenschirm aus dem Ständer im Flur zog.
“Hast du Angst den Schirmständer zu verschrecken? Mach schon!”, zischte Ily und richtete sich wieder auf.
Kim ging in Position, das metallene, spitze Ende der improvisierten Waffe, stichbereit vor sich haltend. “Komm mit erhobenen Händen heraus! Wir sind bewaffnet!”
“Willst du ihm auch noch ne Gruß Karte schicken? Mach das Licht an!”, zischte es neben ihr.
KLICK
Das Licht ging an. Ein Kunststück, auf das Ily gerade mächtig stolz war. Vor ihnen tat sich etwas gänzlich Unerwartetes auf.
Nichts.
Das Schlafzimmer war leer. Nun, bis auf das übliche Mobiliar und eine aus dem Bett gerutschte Gewichtsdecke eben.
“Er muss sich unterm Bett verstecken.”
Kim nickte, kniete sich hin und lugte, den Schirm im Anschlag, unters Bett.
“Wahhh!”
Kim schnellte erschrocken wieder hoch. “Was ist los?”
“Du blutest ja!” Dey deutete auf Kims Unterschenkel, der beachtlich rot eingefärbt war.
Diese setzte sich auf und besah ihr Bein, aus dem warmes, klebriges Blut sickerte aus einem fiesen Schnitt an ihrer Wade. “Kacke. Depperter Couchtisch, depperter.”

Sie musste sich beim Sturz von der Couch daran verletzt haben.
“Was ist jetzt mit dem Bett?” Ily sah ängstlich hinter deren Freundin hervor.
“Was? Achso. Nichts. Niemand drunter. Du hast wohl schlecht geträumt und dann hat dich die Decke festgehalten.”
“Aber …!”
“Was? Es ist doch niemand hier!”
“Siehst du noch im Kasten nach?”
“Alter, echt jetzt, Ily?” Ein ausgiebiges Augenrollen später, erhob sich Kim und hinkte zum Schrank.
Aus dem Wohnzimmer ertönte ein gedämpfter Schrei.
Die beiden verharrten in der Bewegung und lauschten.
 Stille, gefolgt von zwei Männerstimmen: “Tag, Herr Kommissar.” “Morgen Stuppner, was haben wir?”
“Du hast den scheiß Fernseher angelassen Kim?”
“Ja, ich dachte du bist in Gefahr. Wenn mein Enbie um Hilfe schreit, mach ich doch nicht noch in Ruhe den Fernseher aus.”
“Ok, richtig. Tschuldige. Bin mit den Nerven irgendwie durch. Machst du aus und legst dich zu mir? Ich will nicht alleine schlafen.”
“Schisserlein. Aber klar.” Kim humpelte ins Wohnzimmer.

Kurz darauf lagen die Beiden im Bett. Kim hatte sich ein Pflaster besorgt und Ily einen Beruhigungstee. Kim löschte das Licht und nichts geschah.
Ily lauschte angestrengt in die Nacht. Kein Laut zu hören. Zufrieden kuschelte dey sich ein und schloss die Augen. Langsam dämmerte dey weg.
KRCH KRCH KRCH
Beide saßen innerhalb von Sekundenbruchteilen aufrecht im Bett.
“Was war das?”, wisperte Kim.
“Dasselbe Kratzen wie vorher. Da aus der Wand. Du hast gar nicht mehr in den Kasten geguckt!”
Kim knipste die Nachttischlampe an und griff nach dem Schirm, der vorsorglich neben dem Bett platziert worden war. Todesmutig glitt auch Ily aus dem Bett. Die Beiden gingen zum Kleiderschrank. Mit einem Ruck riss dey die Schranktür auf und heraus kam … eine karierte Bluse, die ihr entgegenfiel. Kein Insasse im Schrank.
“Ich sag doch, du sollst deine Sachen ordentlich aufhängen, Ily.” Kim seufzte. Es klang jedoch erleichtert und nicht vorwurfsvoll. Sie lehnte den Schirm an die Wand und schloss die Schranktür.
Kratzen und leises Wispern aus der Wand.
Erneut verharrten die Beiden.

Ily deutete auf die Wand neben dem Schrank hinter dem Schminktisch. Gemeinsam hoben sie ihn leise Beiseite und knieten sich vor die Wand. Sie pressten ihre Ohren dagegen und lauschten.
“Helft mir …,” wisperte es, “… meine letzte Hoffnung.”

“Shit. Geister!”
“Jup.” Kim saß mit bleichem Gesicht da.
“In unserer Wand!”
“Jup.” Kims Kinn zitterte. Es könnte sich um ein Nicken handeln.
“Was machen wir jetzt?”
“Exorzismus?”
“Ok. Wie macht man das, Schatz?”
“Warte.” Ily verschwand und kam kurz darauf mit zwei, mit Duct-tape zu einem Kreuz verklebten Kochlöffeln zurück.
“Was ist das?”
“Kreuz. Wir sind Atheisten. Da musste ich eben improvisieren.”
“Ah. Und nun?”
“Ich habs gegoogelt. Warte.” Ily baute sich vor der Wand auf, steckte ein Teebeutelchen Salbei auf einem Teller in Brand und stellte es auf die Kommode.
Kim hustete.
Ily fächerte den Rauch gegen die Wand, nahm Haltung an und rezitierte aus dem Googlinomicon: ” Cruci Fixus Daemonis! Troll, du böser Geist!”
“Sollte es nicht eher ’troll dich’ heißen, oder ’hinfort mit dir’?”
“Kann sein. Hab’s aus dem Rumänischen übersetzen lassen.”


Knarzen, Wispern, ein leises PEW drangen aus dem Gemäuer.

“Hat nix gebracht. Was jetzt?”
“Weiß nicht … Zum Nachbarn rüber? Vielleicht ist der verletzt und wimmert rum?”
“Oh. Ja. Gute Idee. Viel logischer als ein Geist. Haha. Ähm.” Ily sprang auf und zog deren Freundin ebenfalls hoch.
“Warte. Der ist doch gar nicht zu Hause. Wir müssen doch seit Tagen die Katze füttern.” Kim zog den Schlüssel vom Schuhregal.
“Oh. Ja. Na vielleicht ist er eher zurückgekommen, heute und … lass einfach nachgucken.”
Entschlossen gingen sie zur Nachbarwohnung und schlossen auf. Die Wohnung war finster, nur aus dem Wohnzimmer drang flimmerndes Licht.
“Der Fernseher ist an. Hast du den heute angelassen?”, wisperte Ily.
Kopfschütteln.
Die beiden schlichen zur Zimmertür und spähten um die Ecke.


Was sie dann sahen, verschlug ihnen die Sprache. Noch heute fällt es ihnen schwer darüber zu sprechen.

Bei der Therapie skizzierte Ily folgende Zeichnung:

Eine Couch vor einem Fernseher, davor ein Couchtisch auf dem eine Fernbedienung liegt und 5 Mäuse sitzen. Auf dem Sofa liegt des Nachbars Katze, sie blickt in Richtung des Betrachtenden und sagt mithilfe einer Sprechblase “WAS?”
…aus dem Fernseher offenbart eine weitere Sprechblase den Ursprung der geisterhaften Geräusche: “Luke…Ich bin dein Vater!”