Perfektion

Text von Palandurwen
Foto von Pexels von David McBee
CN:Depression

Sie schlug die Augen auf.
Einmal, zweimal blinzeln, damit der knirschende Schlafsand sich aus Augenwinkel und Wimpern löste, dann richtete sie ihren Blick gen Zimmerdecke. Ähnlich einer Kamera, die das Bild versucht in den Fokus zu bringen, stellte er sich Stück für Stück scharf. Sie verfolgte die weichen Konturen der unregelmäßigen Schatten, welche das Morgenlicht durch die Vorhänge schickte. Dabei tat es ihr Geist ihrem Sehwerkzeug gleich und stellte sich langsam, aber stetig auf das anbrechende Heute ein.
Die Minuten bis zu der schon bald über sie hereinbrechenden Klarheit waren kostbar. Denn noch dämmerte sie sachte zwischen Wach und Schlaf. Noch drängte diese innere Stimme sie nicht zu ihrer chronischen Unruhe. Noch lag sie einfach da, war mit sich selbst allein und klammerte sich an diese wohlige Benommenheit, in der sie noch nichts musste, noch nichts sollte, noch nichts brauchte.

Wenn ihr Wecker in wenigen Augenblicken erklingen würde, wäre es wieder so weit.
Die Glieder kämpfend über den Rand ihres Bettes schieben.
Sich unter die Dusche zwingen und sich den vermeintlichen Schmutz der vergangenen Stunden abwaschen.
Die Bürste durch die Haare ziehen und den Schmerz der sich lösenden Knötchen ertragen.
Sich ein gesellschaftskonformes, perfektes Gesicht aufmalen und ihren Körper in die unbequemen, perfekten Kleidungsstücke pressen.
Dann das kalorienbewusste, perfekte Frühstück vorbereiten: Selbstgekochter Porridge mit abgezählten Blaubeeren, fancy Kokosflocken und knackigen Kakaonibs. Perfekt fotogen, absolut gesund, 100 % geschmacksneutral und unbefriedigend.
Aber das würde sie niemandem sagen.
Es war ohnehin keiner da, der zuhörte.
Stattdessen wäre es an der Zeit, sich ihre schicke Umhängetasche und den taillierten Kurzmantel zu schnappen. Das farblich dazu perfekt abgestimmte Halstuch, das eigentlich auch nur gut aussehen konnte, lag schon bereit.
Damit würde sie dann fröstelnd ihr perfektes Zuhause in der perfekten Straße verlassen und sich auf den Weg zu ihrem perfekten Beruf machen.
Sie würde zu ihrem perfekt polierten Wagen gehen, wahrscheinlich noch die perfekt gestylte Nachbarin und ihren Mann begrüßen, freundlich winkend und nicht preisgebend, wie leer diese Perfektion doch war.

Als die erst zarte, dann immer stärker anschwellende Melodie ihres Weckers sich langsam durch ihren fragilen Kokon des Dämmerns zwang, zog sie sich die Bettdecke übers Gesicht, begrub sich darunter. Der Stoff schmiegte sich an ihre Haut, drängte sich bei jedem Einatmen näher an sie heran. Er war weich und schwer. So schwer, dass er ihre Glieder angenehm in den Untergrund trieb.
Und wenn sie einfach liegen blieb?
Es hatte ohnehin keinen Sinn, aufzustehen.
Was war schon Perfektion?
Sie könnte sich noch so sehr bemühen und würde sie doch nie erreichen.
Das flüsterte ihr diese innere Stimme tagtäglich ein.
“Du bist nicht gut genug.”
“Du kannst ohnehin nichts.”
“Wer sollte dich schon vermissen?”

Ja, wer eigentlich?
Es würde wohl tatsächlich niemandem auffallen, wenn sie heute nicht im Büro erschien.
Die Leute würden sicher denken, sie hätte sich für ihren Geburtstag einfach frei genommen.
Für den perfekten Geburtstag ein kleiner Tagestrip.
Wellness, Sektchen, Geschenkeberg.
Und in Wahrheit würde sie in ihrem Bett bleiben und sich langsam von ihrer Decke ersticken lassen.
Nicht der schlechteste Plan.
Es hatte vielleicht auch etwas poetisches und seltsam zufriedenstellendes, genau am eigenen Geburtstag zu sterben. Das wäre doch ein perfektes Ende.
Und das Ende dieser Perfektion.

Als der Wecker unerträglich laut plärrte, hangelte sich unter der Bettdecke ihr Arm hervor, tastete nach dem Schreihals und schaltete ihn endlich aus.
Danach schob sie den Stoff mit der größten Kraftanstrengung von sich und sich aus dem Bett.
Sie war nicht perfekt.
Und darum würde sie auch nicht an ihrem Geburtstag sterben.