Z307

Von Gipfelbasilisk

Z307

Jeden Tag. Licht an, aus blassen Röhren, das dennoch sticht.
Augen auf, durch das Gesicht streichen, Schläfen massieren. Scheiß Nebenwirkungen. Ab ins Bad. Steril weiß, wie alles, nichts Eigenes, fehlende Individualität. Willkommen zu meinem Morningroutine Video, als ob jemand heute so etwas drehen würde, für wen auch. Dafür war keine Zeit. Eskapismus ausgestellt. Zähne putzen, ausspucken ins Probenglas. Ab in die Küche. Trockeneinheit einweichen, herunterwürgen. Flur 3b, ID-Karte aus Fach 3a entnehmen, stempeln, in Registrierungsschlitz 13c stecken. Das Licht im Versuchslabor leuchtet auf. Stahloberflächen im Kontrast zu kalten weißen Fliesen. Wie in der restlichen Wohneinheit kein Raum für Persönlichkeit. Individualität war etwas, das die Gesellschaft aufgrund ihrer früheren Entscheidungen hinter sich gelassen hatte. Ich nehme aus dem Fach c14 ein leeres Dokumentationsblatt. So unendlich viele Seiten eng beschrieben, mit Dokumentationen von unzähligen Versuchen. Kugelschreiber aus dem Zuteilungsfach entnehmen, Datumsangaben, Namen, Gemütsabfrage ausfüllen. Wie geht es mir heute? Ich kreuze gelangweilt an. Schwarze Tinte, dass Einzige, was in Erinnerung bleibt. Die Uhr an meinem Handgelenk piept in einem schrillen Ton. Zeit zu beginnen. 10 Stunden, 54 Minuten, 23 Sekunden, rigoros herunterzählend. Ein weiteres Signal Testflüssigkeit A23 wurde herausgegeben. Ich stehe auf, trotte zum Modul und entnehme die vorbereitete Pipette, und fülle sie zusammen mit einer halben Einheit Spuckwasser vom Zähneputzen in die dafür vorgesehene Petrischale. Dann der Stich in den Finger, ein roter Tropfen fällt in das Gemisch des Gefäßes. Ich nehme die Schale und trage sie vorsichtig zur Auswertungskammer B45 und lege das Papier daneben. Die Atemnische wird freigegeben, ich presse das Gesicht hinein. Unangenehm kalt ist der gebürstete Edelstahl der Nische. Vor meinen Augen spielt sich das Programm ab und der morgendliche Test läuft ab. Lichter blitzen auf, verlöschen. Tief einatmen. Wie es früher war, unter freiem Himmel zu leben? Ausatmen. Erneute Lichtreflexe, einatmen, ausatmen. Andersfarbige Lichtquellen erstrahlen. Warten, blaues Firmament, Sterne, einatmen, ausatmen. Grüne Wiesen, Vögel. All da kannte ich nur aus der Dokumentation. Einatmen, ausatmen. Die Zeit für mich endet und ich muss zurücktreten. Das Testprogramm gibt die Duschkammer frei und ich werfe meine Kleidung in den Kleiderschacht 65 zur Auswertung und Verarbeitung. All diese Zahlen und Buchstaben. In der Berichterstattung stand, dass früher alles Namen hatte. Es gab Bücher, die aus Eskapismus gelesen wurden, die keine Aufzeichnung, sondern ausgedachte Geschichten waren. Man hatte geschrieben, um Ideen, Konzepte und Spaß zu verbreiten. Erlebnisse abseits der Experimente, die ich wieder vollziehen musste, fernab der ständigen Dokumentation meines Lebens im Labor. Ich seufzte. Gab es denn kein Entkommen aus diesem Hamsterrad? Der Schacht frisst wie immer den grünen Stoff. Es gab Zeiten, da freute ich mich auf das Folgende. Inzwischen war es tägliche Pflicht. Nackt trat ich in die Kammer. Entnahme 19E21, dann heißes Wasser von oben, Schaum, Bürsten, die die Haut rein und rot schrubbten. Trocknungsmechanismus B2 die einzige Änderung in all den Jahren, die ich mitbekam. Eines Morgens erschien statt eines warmen Windes, ein rotes Licht, dass das H2O auf meinem Körper verdampfte. Woher kam dieses Wort? Doch die Bedeutung schwebte klar und deutlich vor dem inneren Auge. Kleidung in selber Farbe, Muster und Schnitt wie die zuvor wird mir zugeordnet. Ich ziehe sie an. Trete durch die Schleuse in Versuchsbereich 2. Ergebnisse am Monitor einsehen. Blut und Speicheltest positiv 19E21 negativ wie immer. Ein Piepen der Uhr. Neun Stunden. Zugeteilte Dokumentationen aus dem Fach nehmen. Digitale Befunde, analog auf das Dokumentationsschreiben, das warm von der Sterilisation ist, übertragen. Blutabnahme. Aufteilen in die verschiedenen Versuchsfläschchen. Errechnete Testflüssigkeiten den Papieren des Vortrags entnehmen, herstellen, mit Blut in die Zentrifuge geben. Abwarten, währenddessen. Ergebnisse von P23 und Z43 lesen und auswerten. Mit eigenen Zahlen vergleichen. Neue für den nächsten Tag berechnen, falls es einen gab. Aufzeichnungen, auch meine im Archivfach plazieren. Ein erneutes schrilles Piepen weist mich darauf hin, dass es Zeit ist, den Versuchsaufbau vorzubereiten. Fünf Stunden. Ich öffne das Becken, lege die Schläuche bereit und suche mir Beruhigungslied S14.1 aus der Liste. Ein Lied von früher. Einzige Abwechslung im Alltag. Hoffentlich wäre heute der Tag! Die Zentrifuge stoppt. Ich entnehme die Flüssigkeiten. Zwei schwarz, unbrauchbar. Berechnungsfehler. Drei Möglichkeiten. In KI3 einfüllen. Wahrscheinlichkeiten berechnen lassen. Weitere fallen weg. Bleibt eine. Sechsundachtzig Prozent Probabilität für Kompatibilität. Wie viel ich wohl gestern hatte? Warum durften wir das nicht in die Dokumentation schreiben? Jetzt war es zu spät. Die Dokumente waren wie jeden Tag weg. Morgen würde ich daran denken. Wobei eher nicht. Erinnerung steckte nur im Papier, außer es gelang heute. Ich füllte den Inhalt in die Spritze und drückte ihn mir routiniert in den Arm. Das Brennen verriet mir, dass vermutlich kein guter Tag werden würde.
Ich legte mich in das Becken und führte mir die Schläuche wie jeden Tag in meine Körperöffnungen ein. Wie alles funktionierte, wie am Leben bliebt. Das blieb erhalten, warum verschwand der Rest? Zum Glück gab es die Dokumentation. Ein warnendes Piepen. Eine Stunde. Ich atmete durch und biss auf das Mundstück. Lauschte dem Bass der Musik und schloss die Augen. Das Brennen wurde stärker. Entspannt liegen bleiben. Ruhig atmen. Keine Angst. Morgen wäre ein neuer Tag. Der Schmerz zog sich durch den gesamten Leib, wurde zu groß. Ich riss die Hand hoch, wehrte mich. Sah, wie sich mein Fleisch von den Knochen löste und dann in einem erstickenden Röcheln verstummte.

A403

Das Licht ging an. Stach in meine Augen. Der Bildschirm war schwarz. Ich hatte Zeit. Die Ergebnisse von Projekt Arche Subjekt Z307 lagen bisher nicht vor. Unzählige Generationen, so viele Versuche. Ich trat in das Badezimmer, putzte mir die Zähne, spuckte aus. Verrichtete die Morgenroutine. Öffnete den Kühlschrank. Die Lieferung von gestern, hatte mir aus Archeprojekt Harvest, frisches Obst und Gemüse geliefert. Ich nahm mir einen Apfel. Erst seit einem Monat hatten wir endlich wieder Zugriff auf diese Frucht. Ich war froh darüber, keine Trockeneinheiten mehr essen zu müssen. Zwei Jahre war ich dieses Zeugs jetzt schon los und alles andere war so viel besser. Ich trat zu meiner Musikeinheit und stellte mir Stück S14.1 ein. Ein Lied aus einer lange zurückliegenden Epoche. Ich liebte Musik. Wenn man bedachte, dass der arme Tropf dort unten der Arche Humanity nur einmal am Tag ein Titel hören durfte. Aber wozu auch. Ihm blieb keine Zeit für mehr Eskapismus und er würde sich ohnehin nicht dran erinnern, für die Experimente war es nur Teil der Beruhigung, damit sie bei der Auflösung nicht die Gerätschaften zerstörten. Der Bildschirm piepte. Die Daten waren da. Das extrahierte Wissen, die synthetisierten Ergebnisse eines Tages.
Weiterhin unfruchtbar, immer noch von der Krankheit befallen und unsterblich. Nicht dass Letzteres etwas Schlechtes wäre, es gab ihnen Zeit, das, was von der Menschheit übrig war, zu retten. Sie las seine Dokumentation, er hatte erneut Anzeichen von eigenen Gedanken und Erinnerungen gezeigt. Auch sind Begrifflichkeiten, für die er keine Freigabe hatte in seinem Bewusstsein aufgetaucht. Er hinterfragte das vorgehen, sehnte sich nach Sonne draußen und … Morningroutine Videos? Wie gelangte das in seinen Geist? Sie führte die Löschungsroutine durch. Männern durfte nicht zu viel Erinnerungsstücke an die frühere Welt gegeben werden, waren sie doch schuld an dieser ganzen Misere. Sie löschte die Fragen, alles, was Zeichen eines eigenen Willens abseits der ihm vorgegebenen Routine war. Sie schmunzelte. Gestern hatte er den gleichen Titel, den sie hörte, gewählt. Die KI hatte achtundsechzig Prozent Wahrscheinlichkeit der Kompatibilität ausgegeben, ein Punkt mehr als am Vortag. Zeit für eine Belohnung. Die Erinnerung an das Lied würde sie ihm lassen. Sie wollte wissen, was er morgen wählen würde. Sie lud die überarbeiteten Daten in die Datenwolke und downloadete die Ergebnisse der anderen Archen. Ihre war nach wie vor die Aussichtsreichste. Nur in einer Weiteren hatte der Proband eine ähnlich hohe Prozentzahl wie in ihrer. Sie stellte den Bildschirm ab und warf sich mit ihrem Datenpad auf die Couch und las eins der alten Bücher aus der Cloud. Bis nicht ein System Alarm schlug oder ein neuer Tag begann, würden die Systeme ihre Arbeit erledigen und sie hatte frei. Jeden Tag der gleiche Trott, seit über sechshundert Jahren. Zum Glück hatte sie ihre Geschichten. Früher wurden so viele erschaffen und wenn sie eins hatte, dann Zeit.