Der Zwilling des Almanach

Palandurwen

“Halt still, verdammt noch mal!” Lupinja knurrte unleidlich und versuchte, sich tapfer in ihr Schicksal zu fügen. Aber als Kassandra ihr abermals ein Büschel Fell aus der Haut riss, hielt die Hundsfrau es nicht mehr aus. Sie schnappte über ihre Schulter nach der Hand der anderen, wand sich aus ihrem Griff und verzog sich unter das alte Sofa.
“Sowas unvernünftiges …”
Kassandra zupfte kopfschüttelnd die Haare aus der Bürste und drehte einen kleinen Ballen daraus. Sie hatte ihrer neuen Verbündeten doch nur ein wenig den Dreck aus dem Fell kämmen wollen, aber wer nicht will, der hat schon. Unter ihr knurrte es nochmal dumpf, während die junge Hexe sich resigniert zurücklehnte. Die Couch gab dabei ein unmelodiöses Geräusch von sich.
Nachdem die beiden Gestrandeten ihren Pakt per Handschlag besiegelt hatten, führte die Formwandlerin sie durch unzählige verwinkelte Gassen, bis sie vor einem unscheinbaren Seiteneingang zu einem recht windschiefen Haus standen. Es wirkte nicht passend zur übrigen, betonlastigen und geradlinigen Architektur der Umgebung. Ein wenig, als sei es aus Zeit und Raum gefallen – und tatsächlich war dem so. Denn Lupinja hatte hier eine Art Raumtasche geformt, um sich vor anderen Augen verborgen ein klein wenig Heimatgefühl zu erschaffen. Um diese aufrechtzuerhalten, musste sie wahrscheinlich einen Großteil ihrer Magie verbrauchen. Kein Wunder also, dass wenig für anderes übrig war und sie ihre Hilfe brauchte.
Die winzige Wohnung teilte sich in ein Schlafzimmer mit kleinem, angegliederten Bad, sowie einer Wohnküche auf. Alles wirkte etwas schäbig und heruntergekommen. Nicht unbedingt sehr einladend. Aber die Hexe würde wohl auch kaum zum Kaffeekranz einladen.

“Kommst du da jetzt eigentlich auch mal wieder raus oder willst du den ganzen Tag schmollen?”
Das Kratzen der kleinen Krallen auf dem Holzfußboden verriet Kassandra, dass Lupinja sich zumindest unter ihr bewegte. Die Hexe manifestierte sich schließlich hinter ihr und wirkte noch desolater als zuvor. Bemüht, ihre Contenance zu bewahren, schritt sie um die Couch herum und setzte sich ans andere Ende des Möbels. Sie zog aus Gewohnheit ihre Beine hoch und fläzte sich in die Ecke zwischen Seiten- und Rückenlehne.
Dann begann sie, ihre Gegenüber anzustarren.
Eine Weile herrschte Ruhe zwischen den beiden. Kassandras Knie begann unbewusst zu wippen. Sie wollte tätig werden und nicht länger als nötig in dieser schrägen Dimension feststecken. Doch sie versuchte, sich ihren Stolz zu bewahren. Außerdem hatte sie im Laufe der Zeit gelernt, ihr Temperament einigermaßen zu zügeln. Der Wind findet immer irgendwo eine Lücke. Sie würde auch hier einen Zugang finden.

Nach dem gefühlt Stunden andauernden Starren beugte sich Lupinja nach vorn, griff unter den kippeligen Couchtisch und warf ein kleines, schmuddelig aussehendes Buch auf den Schoß der Windhexe. Diese beäugte es skeptisch. Es wirkte alt, der dunkelgrüne Einband aus schwerem Leder wies bereits eine ordentliche Patina auf. Der Buchschnitt war fleckig und das Papier sah unschön vergilbt aus.
“Was soll ich damit?”
“Das hab ich vor einigen Wochen … gefunden. Schlag es auf!”
Kassandra zog eine Augenbraue skeptisch empor. Ihr Verlangen, dieses Ding anzufassen, war nicht wirklich groß. Aber sie tat, wie ihr geheißen. Vorsichtig hob sie den Buchdeckel an, als das Werk auf ihren Beinen zu zittern und vibrieren begann. Sobald sie es ganz geöffnet hatte, dehnte es sich auf ein Vielfaches seiner Größe aus, sodass Kassandra es mit beiden Armen umfassen musste, um es auf ihrem Schoß halten zu können.
Lupinja stieß ein bellendes Lachen aus.
“Da staunst du, was?”
“Wie kommt denn ein Almanach in diese Welt?”
“Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nur seine Schwingungen aufgeschnappt und bin ihm gefolgt. Er dreht sich um verschiedene, einfache Zauber aus diversen Gebieten.”
Kassandra blätterte wahllos in dem Kompendium herum. Die Seiten wirkten brüchig und knackten gefährlich. Bei jeder Bewegung dachte sie, das Papier könnte zwischen ihren Fingerspitzen zu Staub zerfallen.
“Ich hatte gehofft, darin vielleicht einen Ansatz zu finden, wie ich wieder nach Hause komme und hab es mir darum … ausgeborgt. Aber leider stehen die komplexeren Dinge wohl in einem zweiten Band. Ob es der aber in diese Dimension geschafft hat, konnte ich bisher nicht herausfinden.”
“Und da komm ich ins Spiel, meinst du?”
Kassandra schlug gedankenverloren Seite um Seite um. Notizen über verschiedene Ressourcen, einfache Trankrezepturen, Grundlagen der magischen Anwendung. Dieses Buch umriss die Basics des Hexenwissens. Aber eigentlich war sie schon gar nicht mehr ganz bei der Erzählung der Formwandlerin oder dem Geschriebenen. Stattdessen stellte sie sich auf die Schwingungen des Almanachs ein. Es waren sanfte Wellen, leise Brisen, wie sie von allem und jedem ausgingen. Je genauer sie diesen nachspürte, desto sicherer wurde sie sich allerdings: Ja, sie waren in einer bestimmten Richtung stärker, wurden davon angezogen. Das Gegenstück könnte sich also tatsächlich in nicht allzu weiter Entfernung befinden.

“Bei wem hast du den Almanach gestohlen?”
“Ausgeborgt!”
Kassandra rollte mit den Augen.
“Es war ein kleiner Laden, nicht weit von hier. Sie verkaufen da altes Zeug. Wenn ich zu etwas Geld komme, kaufe ich dort meine Möbel ein …”, gab die andere Hexe immer leiser werdend zu.
“Das erklärt einiges …”
Lupinja knurrte.
“Lass uns dort beginnen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Gegenstück gibt.”
Die Formwandlerin bläkte ihre Zähne – wahrscheinlich ihre Art des freudig erregten Grinsens. Derweil schlug Kassandra den Almanach zu, der sich ruckelnd und zuckend wieder in sein handliches Taschenformat verkleinerte, und steckte ihn in ihre Provianttasche.

So langsam machte sich bei der Windflüsterin bemerkbar, dass sie seit sicherlich 12 Stunden auf den Beinen war und davon ein Großteil in den – natürlich unbequemen – fremden Schuhen dieser Dimension. Wie vermisste sie ihre moosgrünen, passgenauen Stiefel. Etwa genauso lange hatte sie zudem nichts mehr gegessen. Sie versuchte, das Magenknurren zu ignorieren und mit der Formwandlerin Schritt zu halten. Diese sprang in ihrer schmuddeligen Hundegestalt vorweg. Kassandra verkniff sich mühsam ihren amüsierten Gesichtsausdruck, da die Hundfrau am Hinterteil einen einigermaßen sauberen Fleck aufwies, der zeigte, dass ihr Fell wohl eigentlich einen hübschen Cremeton besaß. Der Gesamteindruck hatte sich durch ihre unterbrochene Wellness-Maßnahme leider nicht wirklich verbessert. Die Frau brauchte einfach dringend ein Bad! Doch darum würde sie sich später kümmern müssen.
Ruckartig stoppte der kniehohe Hund und Kassandra wäre fast ungalant über ihn gestolpert. Mit wedelnden Armen ihr Gleichgewicht austarierend bemerkte sie erst auf den zweiten Blick die Glastür, daneben ein Schaufenster und über die Länge dieser beiden Elemente den großen Schriftzug “Antiquariat”, welcher auch schon bessere Tage gesehen hatte. Diese Dimension war einfach so trist.

Lupinja schaut sie auffordernd an und stupste ihr gegen die Wade. Die Windflüsterin schaute durch die große Glasfront. Zwischen diversen Möbeln erhaschte sie dahinter einen Blick auf deckenhohe Regale, gefüllt mit Plunder und – Büchern! Kontrollierend ging ihr Griff ins Innere der Provianttasche. Der geschrumpfte Almanach schmiegte sich an das Seitenteil, als ob er es nicht erwarten konnte, dem Geschäft näher zu kommen. Ja, hier waren sie wohl richtig.
Kassandra nickte der Formwandlerin kurz zu, dann griff sie nach der metallischen Türklinke, um den Laden zu öffnen. Ein kleines Glöckchen wurde angestoßen und erschreckte die junge Hexe. Geschwind mogelte sich Lupinja zwischen ihren Beinen durch und wuselte ins Dunkle. Na toll, dachte sie sich. Eigentlich hatte sie erwartet, dass die andere Hexe draußen bleiben würde.
“Kann ich Ihnen helfen?”
Eine ölig-warme Stimme goss sich in ihr Ohr. Kassandra drehte sich schwungvoll um und sah sich Auge in Auge mit einem Herren konfrontiert, der für ihren Geschmack ein gutes Stück zu nahe stand. Sie trat einen Schritt in die andere Richtung, lächelte verlegen und murmelte: “Nein, danke, ich würde mich nur gern umschauen.”
Der Mann hatte graue Augen, die ihr wachsam, aber freundlich hinter einer kreisrunden, goldgerahmten Brille folgten. Sein Gesicht wies bereits einige Runzeln auf, vor allem um die Augen, und sein schlohblondes, kurz geschnittenes Haar wirkte fast weiß an einigen Stellen. Für Kassandra war dieser Mann absolut alterslos.
“Kein Problem. Hier vorne finden Sie einige Angebote, den Gang lang haben wir Möbel aus verschiedenen Epochen und im Raum links können Sie meine kleine persönliche Leidenschaft entdecken. Ich bin ein hoffnungsloser Bücherwurm!”
Die letzten Worte hatte er ihr etwas zugeneigt leise entgegengeraunt. Mit einem freundlich-verschwörerischen Gesichtsausdruck lehnte er sich wieder zurück, drehte sich um und lief – ein bisschen hinkend, wie Kassandra auffiel – zurück zu seinem Tresen, wo er sich anderer Kundschaft widmete.

Lupinja knurrte aus dem Dunklen die Windflüsterin an und diese besann sich auf ihr Vorhaben. Schlendernd schritt sie scheinbar wahllos durch die Reihen aus aufgetürmten Möbeln, die eine Hand an ihrer kleinen Tasche. Der Almanach drängte sich immer stärker an die Innenseite und wies ihr überdeutlich den Weg, ähnlich einem Kompass. Sie konnte nicht länger seinem Flehen widerstehen und bog endlich in den etwas abgetrennten Raum ein. Huschend folgte ihr der kleine Schatten. Dass der Mann dazu noch nichts gesagt hatte, verwunderte Kassandra zwar etwas, schob es aber auf die zugegeben gute Tarnung der Formwandlerin. Selbst sie als Sucherin verlor sie ab und an aus dem Blick, spürte sie mehr, als dass sie sie wirklich sah.
Die junge Hexe positionierte sich in der Mitte des Zimmers und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Der Mann hatte nicht übertrieben. Die Regale reichten bis unter die Decke und in ihnen standen die Buchreihen zum Teil doppelt. Davor stapelten sich zudem zahlreiche Werke mindestens kniehoch. In dieser Menge hätte Lupinja tatsächlich lange suchen müssen.
Ein vorsichtiger Blick über die Schulter verriet ihr, dass der Verkäufer im Vorraum noch angeregt mit einer Kundin sprach. Kein anderer Mensch war zu sehen. Sie musste schnell und gründlich arbeiten. Sofort schloss sie die Augen und griff wieder in ihre Tasche.
Während sich ihre linke Hand um den zappelnden und immer stärker randalierenden Almanach schloss, streckte sie ihren rechten Arm aus und hielt die Handfläche dem Büchermeer entgegen. An ihren Fingerspitzen spürte sie das leise Kribbeln, die Funken der Magie, die sich in ihnen konzentrierten. Langsam schritt sie suchend mit der Handfläche die Buchrücken entlang. Die Augen noch immer geschlossen, die Fingerspitzen sachte tanzend. Kundig, erfahren, ganz bei sich und in ihre Fähigkeiten vertieft, konnte sie nichts stören. Weder das gedämpfte Plaudern von vorn, noch die Türglocke rissen sie aus ihrer Arbeit.
Sie atmete tief ein und aus, übernahm dabei die Schwingungen des Almanachs in ihrer Hand und leitete sie in ihre Fingerspitzen. Wartete darauf, das Echo zu empfangen, welches das Gegenstück unweigerlich ausstoßen würde.
Und endlich.
Kassandra schlug die Augen auf. Ihr Blick ruhte auf einer ganz in der hinteren Ecke stehenden Vitrine. Auf Brusthöhe erspähte sie dort den Zwilling ihres Almanachs hinter dickem Glas. Kein Wunder, dass sie eine Weile gebraucht hatte, ihn aufzuspüren. Doch nun, als sie ihn gefunden hatte, war ihr mulmig.
Das Buch starrte sie doch an! Sein Leseband lugte wie eine grausam verzerrte Zunge aus seinen Seiten hervor. Es lauerte. Sie beschlich das Gefühl, als wolle dieser Band sie sofort verschlingen, falls sie sich erdreistete, ihn zu berühren. Oder bildete sie sich das alles nur ein?

“Einen ausgefallenen Geschmack haben Sie da.”
Die ölige Stimme riss sie aus ihrer Analyse. Sie drehte sich ungeschickt auf ihrem Absatz um und versuchte durch die Bücherstapel zu navigieren, ohne diese umzustoßen.
“W-wie bitte?”
Der Mann lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen, leicht lächelnd im Türrahmen und beobachtete sie aufmerksam. Jede Bewegung schien sich in Zeitlupe auf seinem Brillenglas noch einmal abzuspielen. Kassandra hatte das ungute Gefühl in eine Falle getappt zu sein und nun von zwei Seiten belauert zu werden. Wo war Lupinja? Aus dem Augenwinkel versuchte sie, in den Schatten die Formwandlerin zu suchen. Doch ihr Instinkt zwang sie, sich schleunigst wieder auf ihren Gegenüber zu konzentrieren.
Ihre Hand in der Tasche ließ den Almanach los und tauchte wieder hervor, um sich um Ruhe bemüht über ihre andere Hand vor ihrem Bauch zu legen. Dabei ließ sie in möglichst kleinen, fast zufällig anmutenden Bewegungen ihre Finger ab und an wieder tanzen, um die Schwingungen des Mannes aufzufangen.
Es konnte kein Zufall sein, dass sie sich so bedrängt von seiner Präsenz fühlte. Und nach einem zähen Moment fand sie es.
Ein Funkeln.
Dieser Mann verfügte eindeutig über Magie.
Sie keuchte und trat noch einen kleinen Schritt in die andere Richtung, hin zur Glasvitrine. War er auch ein Gestrandeter? Oder gehörte er in diese Welt? Männliche Hexen waren selten in ihrer Dimension. Ein Vermisster wäre ihr gewiss bekannt. Aber in dieser Welt durfte es doch eigentlich gar keine Hexen mehr geben, oder?
“Ich habe Ihren Geschmack bewundert. Dieses spezielle Werk ist ein für mich besonderer Schatz, um ehrlich zu sein, und steht leider nicht zum Verkauf.”
Er machte keine große Bewegung. Fast hätte sie es nicht gesehen. Doch sein linker Zeigefinger beschrieb fast unmerklich einen kleinen Kreis in der Luft. Das Klacken des Schlüssels im Türschloss bewies: Es handelte sich um einen Animateur. Ein Hexer, der über Telekinese verfügte.

Und sie waren gefangen.