Bist du bereit?

Text: Palandurwen Instagram Twitch
Bild: Pexels Jasdeep Dhindsa
CN: Einsamkeit, Schmerzen, Tod
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Bist du bereit?

Es war die Zeit zwischen Herbst und Winter. Die Bäume hatten ihr farbenfrohes Kleid bereits abgeworfen, doch der Schnee erhellte die Welt noch nicht. Winzigkleiner Wasserstaub hing in der Luft, setzte sich auf jede Oberfläche, machte sie feucht und schwer, kroch ins Innere. Er zog seinen achtlos gewickelten Schal etwas enger um den Hals, als ob das etwas daran ändern könnte, und schritt weiter die Straße entlang. 

Wobei schreiten zu viel gesagt war. Seine Füße müssten elangeladen und sich mit wenigstens einer Spur Eleganz schnurstracks voran bewegen, um diese Beschreibung zu verdienen. Seine jedoch hoben sich nur mühsam vom Asphalt, als sei dieser in Wahrheit zähflüssiger Schlick, der ihn peu-a-peu nach unten zog, fesselte, gebunden hielt. 

Doch er wollte nicht länger gebunden sein. 

Gebunden an dieses Leben. 

Dieses Leben, das keines mehr so richtig war. 

Seine Schritte führten ihn zu einer Bank, die an der Einmündung eines Parkes stand. Wie ein Ertrinkender hievte er seinen unsagbar schweren Körper auf die grau-grünlich wettergegerbten Holzplanken und atmete schwer aus. 

Er legte das Gesicht in seine Hände, denn er wollte nichts mehr sehen. 

Er hatte genug gesehen. 

Und doch nie das, was er sich sehnlichst gewünscht hätte.

Eine einzelne Krähe sang ihr Lied, als er durch seine Finger lugte und das abgestorbene Gras zu seinen Füßen sah. 

Gestorben. 

Tot.

Wörter, die ihren Schrecken schon länger für ihn verloren hatten. 

Er hatte Träume gehabt. Zuversichtlich startete er in sein Leben. Er war aufgeweckt, klug. Ein bisschen frech und dabei immer aber charmant, sodass seine Mutter ihn nie ganz ernsthaft tadeln konnte und er mit einem liebevollen Klaps auf den Po entlassen war. Er trieb es auch nie zu bunt, denn er wollte keinem schaden. Er wollte einfach nur leben. Die Welt erleben. So schnell und so intensiv, wie nur irgendwie möglich. 

Für diesen Wunsch nahm er in Kauf, sein Elternhaus zurückzulassen. Die Armee lockte mit fernen Ländern, Kameradschaft und großem Ruhm. Dass sie ihm in Wahrheit vor allem Verlust, Demütigung und Schmerz zeigen würde, ahnte er nicht, begriff er zu spät.

Als er sich aus diesem Höllenpfuhl aus Leid endlich freigekämpft hatte, war von dem lustigen Jungen nicht mehr viel übrig. 

Er war begraben unter Narben. 

Narben auf seiner Haut. 

Narben auf seiner Seele.

Und er wusste nie, welche nun schwerer wogen. 

Nach dem Verlust seiner Selbst versuchte er lange Zeit, die richtige Füllung für seine leere Hülle zu finden. War es der Draufgänger? Was es der Ernsthafte? Eine Weile lang dachte er, es könnte der liebende Mann, der liebende Vater sein. 

Doch seine Narben wogen stets zu schwer. 

Zogen ihn immer wieder in dunkle Abgründe, Schluchten aus unverarbeiteten Traumata, aus glimmender Wut über alles Unrecht, was ihm und anderen widerfahren war, aus Abscheu über seine eigene Hilflosigkeit. Und irgendwann riss der nur mühsam geknüpfte und ohnehin stets angespannte Faden, der ihn noch mit seiner Familie verband. 

Er wusste nie, ob nicht sogar eine der beiden Parteien dieser Beziehung nachgeholfen hatte. 

Vermutlich er. 

Und dafür hasste er sich selbst noch mehr. 

Als sei dieses Leiden aber noch nicht genug, holten ihn die Schrecken des Krieges wieder ein. Sie ergriffen nicht mehr nur von seiner Seele Besitz, sondern krochen unter seine Haut, stifteten Unruhe in seinem Leib, verursachten ihm Schmerzen und Unwohlsein. Die genaue Diagnose konnte kein Arzt stellen. 

Aber er war auf jeden Fall krank. 

Am dahinsiechen. 

Körperlich wie seelisch. 

Verwundet, blutend. 

Einsam. 

Wieder schrie die Krähe auf und er riss erschrocken die Hände vom Gesicht, warf den Kopf in den Nacken und starrte hektisch atmend in den Himmel. Keine Spur von dem Vogel.

“Ist hier noch frei?”

Er zuckte zusammen und drehte sich zu der Stimme um, die ihn sanft und freundlich angesprochen hatte. 

Sie gehörte einer jungen Frau – oder war sie doch schon älter? Ihr Haar changierte mal ins strahlendweiße Blond und dann wieder ins farblose Grau. Sie hingen ihr in wogenden Wellen über die linke Schulter und hoben sich stechend scharf von ihrem schwarzen, bodenlangen Mantel ab. Sie wartete auf eine Antwort, während sich ihre schlanken Finger in den Pelzbesatz ihres Jackenrevers gruben und ihn etwas fester um ihren Oberkörper zogen. Ganz ähnlich, wie er es vorhin getan hatte.

Er wollte nein sagen. 

Er ertrug keine anderen Menschen. 

Erst recht keine aufdringlichen jungen Dinger. 

Aber etwas an ihr zog ihn an. Und so rutschte er ein klein wenig zur Seite und wies mit der Hand stumm auf den Platz neben sich. 

Sie lächelte, setzte sich mit einem kurzen, dankbaren Nicken und blickte dann gedankenverloren in den sich vor ihnen eröffnenden Park. 

Er musterte sie noch einen Moment lang, bis ihm bewusst wurde, wie unhöflich das war. Also folgte er ihrem Blick nach vorn.

Auf der Wiese pickten einige größere und kleinere Vögel lustlos am Boden herum, auf der nicht wirklich vielversprechenden Suche nach einem Leckerbissen. Keiner gönnte dem anderen auch nur das kleinste Körnchen, den schmalsten Halm. 

Es fühlte sich frustrierend vertraut an.

Eine Weile schauten sie beide wortlos diesem Schauspiel zu.

Dann lehnte die Frau sich zurück, legte ihren Arm auf die Rückenlehne, drehte sich zu ihm hin und fragte: “Bist du dann so weit?”

Er zog die Stirn in Falten und blickte verwirrt zu ihr hinüber.

“Bereit wofür?”

“Zu gehen.”

Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. 

“Wohin soll ich gehen? Hier wartet keiner auf mich. Und was geht das Sie überhaupt an?”

“Nein, hier nicht. Das stimmt. Aber davon sprach ich auch nicht.”

Ein eisiger Luftstoß zerrte an seiner Jacke. Trieb ihm die Tränen ins Auge. Spielte mit ihren Haaren.

Doch sie wandte sich nicht ab. 

Sie saß da. Wartend. Freundlich lächelnd. 

“Ich verstehe nicht …”

Sie legte den Kopf etwas zur Seite.

“Ich frage dich, ob du fertig bist. Ob du gehen möchtest. Du musst natürlich nicht. Aber … du darfst. Ich nehm dich mit, wenn du willst.”

Er blinzelte die Tränen weg.

Erst die des frostigen Windes.

Dann die seines nie zu schmerzen aufhörenden Körpers.

Und schließlich die seines vernarbten Herzens.

Sanft sank eine einsame, weiße Flocke vor seiner Nase herunter. Sie landete auf seinem Jackenärmel. Ihr folgte eine weitere und noch eine. Dick, fast flauschig sahen sie aus. Schnell wurden es mehr. Sie schmolzen auf seinen Händen, auf seinen Wangen. 

Der erste Schnee. 

Er hatte es nicht bewusst entschieden. 

Er hatte auch nichts gesagt.

Dennoch stand die Frau auf und reichte ihm lächelnd ihre Hand.

Ohne zu zögern ergriff er sie und ließ sich von ihr aufhelfen. 

Sie wollte ihn fürsorglich stützen, doch er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und bot ihr seinen Arm an. Ganz wie man es als Gentleman so tat. 

Sie hakte sich bei ihm unter und lachte.

Es war ein Perlen, ein Klang, wie er es schon lange nicht mehr gehört hatte – vielleicht auch nie. Als sei es nicht von dieser Welt. 

Es war so schön.

Sie gingen ein paar Schritte, als er sich noch einmal umdrehte und auf die Parkbank schaute.

Da saß ein alter Mann. Ein wenig in sich zusammengesackt, den Kopf ohne Hut – er vergaß ihn immer – auf die Brust gesunken. 

Der Schnee, der auf ihm landete, schmolz nicht mehr.

Und auf seinen Lippen lag ein Lächeln, wie er es an sich seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Erleichtert.

Dankbar.

Friedvoll.