Der Wanderstab des Jaguars

Text von StefShepardRox
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Kata schwang das leuchtende Ding wie ein Schwert durch die Luft. Sey war sich sicher, dass es magisch war, aber gab es so etwas wie Magie überhaupt? Für sey keine Frage. Natürlich. Immerhin war der Stock, den sey heute beim Wandern mit ihren Eltern eingesammelt hatte, bei Tageslicht eben nur das gewesen. Ein Stock.
Jetzt aber, wo die Sonne untergegangen war und der Himmel nur noch mit einem rosa-orangen Glühen an sie erinnerte, begann er zu leuchten. Nicht wie eine Lampe. Viel mehr hatte sey zusehen können, wie er immer kräftiger strahlte, je weniger Tageslicht vorhanden war.
“Kata! Wo steckst du? Komm ins Haus, es gibt gleich Essen!”
Sey schrak auf. War es schon so spät? Hoffentlich bekam sey keinen Ärger. Sie hatte bei Sonnenuntergang zuhause zu sein. Geschwind huschte sie ins Haus.
“Bin ja hier Mama! Wasch mir noch schnell die Hände!”
Kata flitzte die Treppe zu ihrem Zimmer hoch und versteckte den Stock im Kleiderschrank. Umgezogen und gewaschen, saß sey ein paar Minuten später mit der Familie am Tisch.
“Kata, wie oft haben wir dir schon gesagt, dass du nach Sonnenuntergang nicht mehr draußen sein darfst? Das ist gefährlich. Da draußen gibt es wilde Tiere und du bist erst acht Kind!” Seys Vater sah sey mit einer Mischung aus ärger und Sorge an. So wie eben nur Papas gucken können.
“Ja Paps. Ich war ja auch nur noch im Garten. Das ist ja eigentlich zuhause.”
“Ach Kata.” Seys Mutter setzte an etwas zu sagen, gab es aber auf und lächelte stattdessen. “Es gibt dein Lieblingsessen. Pachamanca. Opa hat es für uns den ganzen Nachmittag im Erdtopf garen lassen.”
“Au ja! Bist der Beste, Abuelo!” Kata streckte ihrer Mutter sofort deren Teller hin. Das Porzellan hob sich in einem ebenso schönen Kontrast von deren gebräunter Haut ab, wie die Zähne, die sey breit grinsend zeigte.
“Kata weiß was sich gehört, sehr ihr. Sie kommt klar.” Seys Grossvater zwinkerte sier zu und griff nach dem Löffel.

Kata lag aufgeregt im Bett. Sey wartete darauf, dass die Eltern ebenfalls schlafen gingen. Sobald die elterliche Schlafzimmertür mit einem leisen Klacken geschlossen wurde, begann sey zu zählen. Bis zweihundert Lamas. Das reichte bestimmt, damit ihre Eltern eingeschlafen waren. Eine große Zahl bedeutete gewiss auch viel Zeit. Bei Einhundertneunundneunzig hielt Kata es nicht mehr aus und rutschte aus dem Bett. So leise wie möglich zog sey sich an, fischte den leuchtenden Stab aus dem Schrank und schlich nach Draußen.
Ihr Haus lag am Rande des Dorfes und der Weg in den Dschungel war nicht weit. Sey folgte dem Feldweg bis zum Waldrand und blieb stehen. Gewiss würde der Stab alle wilden Tiere verscheuchen. Oder noch wahrscheinlicher, beruhigen, damit sie Kata lieb hatten. Das sanfte Licht hatte etwas warmes, angenehmes. Man konnte ihm vertrauen. Sey war sich sicher, dass auch Tiere das fühlen konnten. Die waren ohnehin schlauer als Menschen. Dessen war sey sich sicher. Tiere lebten mit der Natur. Manche jagten andere, aber nur, wenn sie Hunger hatten. Naja, außer Katzen, berichtigte sey sich selbst. Aber nur die kleinen. Die Großen im Dschungel spielten nicht mit ihrem Essen. Menschen hingegen, machten alles kaputt.
Sey wäre viel lieber bei ihren Vorfahren, den Inka aufgewachsen. Die lebten noch im Einklang mit der Natur. Ihre Eltern wanderten gerne hoch zu Machu Picchu. Ihr Dorf lag direkt am Fuße des Berges, auf dessen Rücken die alte Stadt lag.  Auf der ganzen Welt kannte man die Ruinen auf dem Berg in ihrer Heimat Peru, nicht weit von Cusco entfernt. Zumindest hatte Mama ihr das erzählt.
Kata fasste sich ein Herz. Der Dschungel war seys Freund. Der magische Wanderstock würde sey gewiss sicher hoch bringen. Es war ein langer Marsch. Sie waren am frühen Morgen aufgebrochen, um es hoch und wieder runter zu schaffen, bevor es Abend wurde. Den Stock hatte sey von dort oben. Ob er einst einem Inka gehört hatte, der ihn auch als Wanderstab benutzt hatte? Taschenlampen gab es ja damals noch keine. So ein Leuchtstock wäre also sehr nützlich gewesen, wenn der Inka sich auch mal im Wald vertrödelt hatte und zum Essen nachhause musste.

Der Aufstieg war hart, besonders, weil sey ihn an diesem Tag schon einmal gemacht hatte. Jedoch sandte der Leuchtestab immer frische Kraft in siere müden Glieder, wann immer diese erschöpft war. Sie ließ die Baumgrenze hinter sich. Kata bekam fürchterlichen Durst, da war  sier, als zöge sey der Stab nach rechts, hinter einen Felsen. Unsicher tappte sey um ihn herum und entdeckte dahinter eine Quelle, die aus dem Felsen sickerte. Sey legte den Stock daneben, formte eine Schale aus sieren Händen, ließ sie mit dem kalten Wasser volllaufen und trank. Nie hatte sey etwas Besseres getrunken! Gestärkt ging sey weiter den Bergpfad hoch, bis sey im Mondlicht die Ruinen ausmachen konnte, die sich über sier gegen den Nachtimmel abzeichneten.
Kata ging das letzte Stück des Weges und setzte sich auf eine steinerne Stufe in der alten Ruinenstadt. Wann wohl die Sonne aufgehen würde? Wenn sey die Augen zusammenkniff und länger nicht in den Schein des Stabes blickte, damit die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten, meinte sey am Horizont bereits den schmalen Silberstreif ausmachen zu können, der die Morgenröte ankündigte. Seys Ahnen hatten die Sonne angebetet, fiel sier ein und dem Sonnengott Opfer dargebracht. “Nicht immer nette,” hallte Papas Stimme in den Ohren der Erinnerung nach. Was auch immer er damit gemeint haben mochte.
Sey hörte ein Knurren hinter sich. Die Augen weit aufgerissen, wandte sey sich um und blickte in die großen Augen eines Jaguars. Sie blickten einander in die Seele. Offengelegt durch den Schein des Wanderstabes. Die Großkatze öffnete ihr Maul, leckte sich über die Zähne und gähnte herzhaft. Sie stupste ihren Kopf an den des Kindes und setzte sich neben sey. Den Schwanz elegant um die Pfoten geschlungen. Erneut hörte sey etwas hinter sierem Rücken. Diesmal klang es wie Schritte. Kata wandte sich um und machte die Konturen eines heranspazierenden Lamas aus. Dieses schnupperte kurz an sierem Haar und legte sich zufrieden zu sierer anderen Seite nieder.
So blickten sie zu Dritt zum Horizont, der sich mittlerweile in sein feinstes rot gekleidet hatte. Als das erste Sonnenlicht den Stab berührte, fühlte Kata das unbändige Verlangen, ihn zu berühren. Sey streckte die Finger aus und legte sie auf das glatte Holz. Licht durchflutete sieren Körper und mit einem mal, war sey nicht länger in der Ruinenstadt, sondern im Machu Picchu ihrer Ahnen, die geschäftig umher liefen. Die kaputten Gebäude waren wieder ganz. Eine Frau saß vor einem Haus und sang ihren Kindern etwas vor, in einer alten Sprache, die Kata noch nie gehört hatte und doch verstand sey, was sie bedeuteten.
Der Jaguar neben ihr stupste sie mit der Nase an.
“Gefällt es dir hier?”
“Oh ja!  Darf ich hier bleiben?”
“Das geht nicht auf Dauer. Du musst zurück zu seinen Eltern. Aber du kannst jederzeit wieder kommen,” antwortete das Lama.
Die Umgebung veränderte sich erneut und sey war wieder zurück in der Ruinenstadt.
“Wir bringen dich nach Hause. Steig auf.”
Kata sah das Lama stirnrunzelnd an und kletterte schließlich auf seinen Rücken.
Wenig später fanden sie sich am Waldrand am Fuße des Berges wieder.
“Kommst du uns bald wieder besuchen? Du kannst uns mit dem Stab rufen. Denk einfach fest an uns,” sagte das Lama.
“Ja, das mache ich. Ist das Magie?”
Der Jaguar nickte bedächtig. “Ja. Magie ist überall, in allen Wesen. Ihr Menschen habt es nur vergessen.”
Kata umarmte siere neuen Freunde zum Abschied und sie verschwanden im Dschungel. Traurig war sey aber nicht. Bald schon würde sey sie wieder sehen.