Die letzten Gedanken
Das Wasser umspielte seinen Körper, wie ein Liebhaber der seinen Geliebten umarmt.
Nur hatte dieser Körper nie die Umarmungen eines anderen Körpers genossen.
Er hätte es gerne, ach so gerne.
Küsse ja, Küsse hatte er genossen, aber dann?
Die Küsse wurden je unterbrochen. Er spürte einen Tritt in seinen Rücken, sah, wie die Person die er kurz zuvor noch küsste, mit schmerzverzerrtem Gesicht neben ihm, am Boden lag. Dann erkennen. Er griff noch nach ihm. Ein Tritt traf sein Handgelenk. Er sah, wie er wegrannte, er ließ ihn allein. Schmerz durchzog seinen ganzen Körper. Worte drangen durch die Betäubung an sein Ohr.
„Schwuchtel, jetzt lachst du nicht mehr. Deinen kleinen perversen Freund bekommen wir auch noch.“ Ein weiterer Schmerz durchfuhr sein Fußgelenk. Er probierte es aber er konnte seinen Fuß nicht mehr bewegen.
„Wollen wir mal sehen ob diese kleine Schwuchteln, schwimmen kann.“
Zustimmendes Gelächter drang an seine von Schmerz gepeinigten Gedanken. Schwimmen? Er konnte schwimmen.
Er spürte, wie er vom Boden aufgehoben wurde. Aber nicht sanft, wie eine Mutter die ihr Kind aus der Wiege hebt, sondern hart, ruckartig ohne Zuneigung oder Rücksicht.
Ein keuchen, als einer sein zerschmettertes Fußgelenk packte, wurde mit einem festeren Griff belohnt, der ihm fast die Sinne raubte.
Dann spürte er, wie sich etwas Kaltes in seinen Rücken bohrte. Sie hielten ihn über die Metallbrüstung. Und dann?
Nur wenige Sekunden, das Gefühl zu fliegen, die Welt drehte sich. Sein Kopf prallte auf etwas Hartes auf. Das Bewusstsein glitt, wie das Wasser welches seinen Körper umspielte davon.
Ein letztes Mal wurde er wach und dachte an die heißen Küsse, die er kurz zuvor noch genossen hatte. Hoffentlich konnte er fliehen. Er würde Hilfe holen, sie würden ihn finden und retten.
Er stellte sich vor, wie es wäre von ihm umarmt, in einem warmen Bett zu liegen und ruhig einzuschlafen. Er kraulte ihm durchs Haar und küsste ihn dann sanft.
Ihm war so kalt …
Wenn ihn doch endlich jemand finden würde.
Er lag im Bett. Spürte den warmen Körper neben sich. War etwa die Kälte, das Wasser und der Schmerz, dass alles, nur ein Traum?
Plötzlich spürte er keine Kälte mehr, keinen Schmerz und der Bach riss seine letzten Gedanken mit sich fort.
Als am Morgen die Sonne aufging, wurde sein geschundener Körper gefunden, aber da war es schon zu spät.
Text vorgelesen im Stream vom 27.11.2020